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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter
Autoren: Peter Hoeg
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    Ich habe eine Tür aus dem Gefängnis gefunden, die sich zur Freiheit öffnet, ich schreibe dies, um dir die Tür zu zeigen.
    Nun wirst du vielleicht sagen, wie viel Freiheit glaubt man eigentlich verlangen zu können, wenn man wie ich auf Finø geboren wurde, das Dänemarks Gran Canaria genannt wird, überdies in einem Pfarrhaus mit zwölf Zimmern und einem Garten, groß wie ein Park. Und umgeben von Vater und Mutter und großer Schwester und großem Bruder und Großeltern und Urgroßmutter und einem Hund, die allesamt von einem Reklamefoto für ein Produkt herunterlächeln könnten, das teuer, aber gut ist, gut für die ganze Familie.
    Und obwohl es natürlich nicht so viel zu sehen gibt, wenn ich in den Spiegel gucke, weil ich nämlich der Zweitkleinste in der Klasse bin, der siebten in der Städtischen Schule in Finø, gibt’s doch einen ganzen Haufen älterer und auch schwererer Spieler, die mich im Stadion wie einen Surfer im Wind an sich vorüberschweben sehen und hinterher merken, wie ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn ich die gnadenlose rechte Klebe abfeuere.
    Also worüber beklagt der sich eigentlich, wirst du vielleicht sagen, was glaubt der denn, wie es anderen Burschen mit vierzehn geht? Darauf gibt es zwei Antworten.
    Die erste ist: Du hast recht, ich sollte mich nicht beklagen. Aber als Vater und Mutter plötzlich weg waren undalles richtig schwierig und unerklärlich wurde, entdeckte ich, dass ich etwas vergessen hatte. Ich hatte, als alles noch hell war, vergessen herauszufinden, was eigentlich von Dauer ist, worauf man sich wirklich verlassen kann, wenn es anfängt, dunkel zu werden.
    Die zweite Antwort ist bitter: Schau dich doch mal um – wie viele Menschen sind eigentlich richtig froh? Auch wenn man einen Vater mit Maserati hat und eine Mutter mit echtem Mink, was eine Weile bei uns auf dem Pfarrhof der Fall war, ist das wirklich ein Grund, hurra zu schreien? Oder ist die Frage, was einen Menschen frei machen kann, nicht doch erlaubt?
    Wahrscheinlich wirst du jetzt einwenden, dass, soweit das Auge reicht, die Welt voller Leute ist, die einem erzählen wollen, wie man sich verhalten soll, und ich sei jetzt also der Tausendste. Na ja, einerseits stimmt das natürlich, andererseits ist es doch ein bisschen anders.
    Wenn du meinen Vater in der Kirche von Finø hättest predigen hören, bevor er verschwand, hättest du ihn sagen hören, Jesus sei der Weg, und ich versichere dir, mein Vater kann das so schön und natürlich sagen, als spräche er von dem Fußweg zum Meer hinunter und als wären wir alle gleich da.
    Wenn du dem Gottesdienst auf einem Hocker neben der Orgel beigewohnt hättest, die meine Mutter spielte, und wärst dann noch einen Augenblick sitzen geblieben, hätte sie dir erzählt, die Musik sei die Zukunft, und ich sag dir, sie spielt und sagt es so überzeugend, dass du auf der Stelle die ersten Klavierstunden gebucht hättest und schon auf den Beinen wärst, um nachzugucken, ob du nicht für den Inhalt deines Sparschweins einen Flügel kaufen könntest.
    Wärst du nach dem Gottesdienst zu uns zum Kirchkaffee gekommen, und zwar an einem Tag, an dem mein Lieblingsonkel Jonas zu Besuch war, ein Mann, der in der Äußeren Mongolei auf Bärenjagd geht und in seinem Entree einen ausgestopften Bären stehen hat und der irgendwann Gewerkschaftsvorsitzender wurde, dann hätte er dir einen Monolog nicht unter zwanzig Minuten gehalten und dir verklickert, das geilste Erfolgserlebnis sei, wenn man physisches Selbstvertrauen hat und sein Leben der Organisierung der Arbeiterklasse widmet, und das sagt er nicht nur, um meinen Vater aufzuziehen, nein, er meint es auch vollkommen ernst.
    Meine Klassenkameraden hingegen würden dir erklären, das richtige Leben fange nach der neunten Klasse an, weil dann nämlich die meisten Kinder auf Finø zu Hause ausziehen und auf das Internat oder die Technische Schule in Grenå wechseln.
    Und schließlich, um mal ganz woanders hinzugehen, wenn du die Insassen vom Store Bjerg fragtest, dem Therapiezentrum westlich der Stadt Finø, die alle schon vor ihrem sechzehnten Lebensjahr drogenabhängig wurden, wenn du die ganz ehrlich und unter vier Augen fragtest, dann, auch wenn sie total clean und zutiefst dankbar für den Entzug sind und ein neues Leben anfangen wollen, würden sie dir sagen, nichts gehe über die lange, sanfte Euphorie nach einer Opiumpfeife oder den Flash nach einem Heroinschuss.
    Und ich sage dir: Meiner Meinung nach haben diese Menschen
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