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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten
Autoren: Andreas Steinhöfel
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SAMSTAG
    DIE FUNDNUDEL

    Die Nudel lag auf dem Gehsteig. Sie war dick und geriffelt, mit einem Loch drin von vorn bis hinten. Etwas getrocknete Käsesoße und Dreck klebten dran. Ich hob sie auf, wischte den Dreck ab und guckte an der alten Fensterfront der Dieffe 93 rauf in den Sommerhimmel. Keine Wolken und vor allem keine von diesen weißen Düsenstreifen. Außerdem, überlegte ich, kann man Flugzeugfenster nicht aufmachen, um Essen rauszuwerfen.
    Ich ließ mich ins Haus ein, zischte durch das gelbgetünchte Treppenhaus rauf in den Dritten und klingelte bei Frau Dahling. Sie trug große bunte Lockenwickler im Haar, wie jeden Samstag.
    »Könnte 'ne Rigatoni sein. Die Soße ist auf jeden Fall Gorgonzola«, stellte sie fest. »Lieb von dir, mir die Nudel zu bringen, Schätzchen, aber ich hab sie nicht aus dem Fenster geworfen. Frag mal Fitzke.«
    Sie grinste mich an, tippte sich mit dem Finger an den Kopf, verdrehte die Augen und guckte nach oben. Fitzke wohnt im Vierten. Ich kann ihn nicht leiden und eigentlich glaubte ich auch nicht, dass die Nudel ihm gehörte. Frau Dahling war meine erste Wahl gewesen, weil sie öfters mal was aus dem Fenster wirft, letzten Winter zum Beispiel den Fernsehapparat. Fünf Minuten später schmiss sie auch noch ihren Mann raus, den allerdings nur aus der Wohnung. Danach kam sie zu uns, und Mama musste ihr ein Schlückchen Gutes einschenken.
    »Er hat eine Geliebte!«, hatte Frau Dahling verzweifelt erklärt. »Wenn die blöde Kuh wenigstens jünger wäre als ich! Schenken Sie mal nach!«
    Weil die Glotze jetzt im Eimer und der Mann weg war, hatte sie sich am nächsten Tag zum Trost einen todschicken Flachbild-Fernseher und einen DVD-Player gekauft. Seitdem gucken wir uns zusammen manchmal einen Liebesfilm an oder Krimis, aber nur an den Wochenenden, wenn Frau Dahling ausschlafen kann. Unter der Woche steht sie bei Karstadt am Hermannplatz hinter der Fleischtheke. Sie hat immer ganz rote Hände, so kalt ist es da.
    Während des Fernsehens essen wir Müffelchen mit Wurst und Ei oder Lachs. Bei Liebesfilmen schnieft Frau Dahling mindestens zehn Tempos voll, aber am Schluss schimpft sie dann immer los, von wegen, nun hätten der Kerl und die Frau sich also gekriegt und jetzt ginge das Elend erst richtig los, aber das würden die natürlich nie zeigen in den Filmen, so ein total verlogener Scheiß — noch ein Müffelchen, Rico?
    »Bleibt es bei heute Abend?«, rief Frau Dahling mir nach, als ich rauf in den Vierten rannte, immer zwei Stufen auf einmal.
    »Klar!«
    Ihre Tür schlug zu und ich klopfte bei Fitzke. Man muss immer bei Fitzke klopfen, seine Klingel ist nämlich kaputt, vermutlich schon seit 1910, als das Haus gebaut wurde.
    Warten, warten, warten.
    Schlurf, schlurf, schlurf hinter der dicken Altbautür.
    Dann endlich Fitzke in Person, wie üblich in seinem dunkelblauen Schlafanzug mit den grauen Längsstreifen. Sein Knittergesicht war voller Bartstoppeln und in alle Richtungen standen ihm die strähnigen grauen Haare vom Kopf ab.
    Echt, so was Ungepflegtes!
    Ein dumpfer, muffiger Geruch schlug mir entgegen. Wer weiß, was der Fitzke da drin lagert. In seiner Wohnung, meine ich jetzt, nicht in seinem Kopf. Ich versuchte, unauffällig an ihm vorbeizugucken, aber er versperrte die Sicht. Mit Absicht! Ich war schon in jeder Wohnung im Haus, nur in Fitzkes nicht. Er lässt mich nicht rein, weil er mich nicht leiden kann.
    »Ah, der kleine Schwachkopf«, knurrte er.
    Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte aber auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem.
    In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel. Bingo spiele ich jeden Dienstag mit Mama im Rentnerclub Graue Hummeln. Die Hummeln haben sich in den Gemeinderäumen der Kirche eingemietet. Ich hab keine Ahnung, warum Mama so gern dorthin geht, da treiben sich nämlich wirklich fast nur Rentner herum. Manche gehen, glaube ich, nie nach Hause, denn sie haben jeden Dienstag dieselben Klamotten an, so wie der
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