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Das Geheimnis der Schwestern

Das Geheimnis der Schwestern

Titel: Das Geheimnis der Schwestern
Autoren: Kristin Hannah
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Prolog
    1979
    Die fünfzehnjährige Winona Grey starrte hinaus auf die Ranch am Hood Canal, die seit vier Generationen im Besitz ihrer Familie war, und suchte nach Hinweisen für Veränderungen. Große Verluste sollten Spuren hinterlassen – Gras sollte verdorren, dunkle Wolken sich zusammenziehen oder ein Baum von einem Blitz gespalten werden. Irgendetwas sollte ein Zeichen setzen.
    Vom Fenster ihres Zimmers aus konnte sie einen Großteil des Weidelandes überblicken. An der hinteren Grenze ihres Besitzes standen mehrere Gruppen riesiger Zedern, deren filigranes Geäst sich zur Erde neigte; auf den sanft geschwungenen Weiden trabten Pferde an den Koppelzäunen entlang und trampelten das grüne Gras in den schlammigen Boden. Im Wäldchen auf dem Hügel verbarg sich das kleine Cottage, das ihr Urgroßvater bei der Urbarmachung des Landes gebaut hatte.
    Alles wirkte ganz normal, aber Winona wusste es besser. Ein paar Jahre zuvor war nicht weit entfernt ein Kind im eisigen Wasser des Hood Canal ertrunken, und monatelang war in der gesamten Region der Washington Coast nur davon die Rede gewesen. Ihre Mutter hatte sich mit Winona hingesetzt und sie vor den heimtückischen, unsichtbaren Unterströmungen gewarnt, die einen selbst in flachem Wasser hinunterziehen konnten, aber jetzt wusste sie, dass unter der Oberfläche des ganz normalen Lebens andere Gefahren lauerten.
    Sie wandte sich vom Fenster ab und ging hinunter. Seit dem Vortag kam ihr das Haus zu groß und zu still vor. Ihre Schwester Aurora kauerte auf dem blau-gelb karierten Sofa und las. Sie war vierzehn, spindeldürr und knochig, und befand sich in dem heiklen Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Sie hatte ein kleines, spitzes Kinn und glatte dunkelbraune Haare, die sie lang und mit einem Mittelscheitel trug.
    »Du bist früh wach, Sprout«, bemerkte Winona.
    Aurora sah auf. »Ich konnte nicht schlafen.«
    »Ja, ich auch nicht.«
    »Vivi Ann ist in der Küche. Vor ein paar Minuten habe ich sie weinen hören, aber …« Aurora zuckte mit den mageren Schultern. »Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.«
    Aurora hatte ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Das wusste Winona, sie war die Streitschlichterin der Familie, die immer versuchte, Harmonie herzustellen und alles in Ordnung zu bringen. Kein Wunder, dass sie so verletzlich wirkte. Jetzt konnte sie niemanden mit schönen Worten trösten. »Ich seh mal nach ihr«, erklärte Winona.
    Ihre zwölfjährige Schwester saß an dem gelben Resopaltisch und sah sich ein Bild an.
    »Hey, Bean«, sagte Winona und wuschelte ihr durchs Haar.
    »Hey, Pea.«
    »Was machst du da?«
    »Ich male ein Bild von uns dreien.« Sie hielt inne und blickte zu ihr auf. Ihr langes weizenblondes Haar war zerzaust und ihre grünen Augen vom Weinen gerötet. Trotzdem wirkte sie makellos schön wie ein Porzellanpüppchen. »Mom kann das doch vom Himmel aus sehen, oder?«
    Winona wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Früher war ihr der Glaube so natürlich und selbstverständlich vorgekommen wie das Atmen, aber das war vorbei. Der Krebs hatte ihre Familie heimgesucht und in so viele Teile gespalten, dass es unmöglich schien, jemals wieder eine Einheit zu werden. »Natürlich«, antwortete sie dumpf. »Wir hängen es an den Kühlschrank.«
    Sie wandte sich zum Gehen, merkte aber augenblicklich, dass das ein Fehler war. Denn alles in der Küche erinnerte sie an ihre Mutter – die blaugelben Baumwollvorhänge, der Mountain-Mama-Magnet an der Kühlschranktür, die Schale mit den Muscheln auf dem Fensterbrett. Komm schon, Winnie, gehen wir auf Schatzsuche zum Strand …
    Wie oft hatte Winona in diesem Sommer ihre Mutter vertröstet? Sie hatte keine Zeit gehabt, um etwas mit ihr zu unternehmen, war auch zu cool gewesen, um den Strand nach schönen, glatten Scherben zwischen den zerbrochenen Austernschalen und dem trocknenden Seetang abzusuchen.
    Dieser Gedanke trieb sie zum Gefrierschrank. Sie zog die Tür auf und entdeckte einen riesigen Becher Eis. Das würde ihr jetzt auch nicht helfen, trotzdem konnte sie nicht widerstehen.
    Sie holte sich einen Löffel, lehnte sich gegen die Küchentheke und fing an zu essen. Durch das Fenster konnte sie die Schottereinfahrt vor dem Farmhaus und den schwedenroten baufälligen Offenstall auf der Lichtung sehen. Dort oben schob sich der blaue verbeulte Truck ihres Dads rückwärts an ihren rostigen Pferdetrailer. Dann stieg ihr Vater aus und ging zur
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