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Das Geheimnis der Schwestern

Das Geheimnis der Schwestern

Titel: Das Geheimnis der Schwestern
Autoren: Kristin Hannah
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den mit Holzspänen bedeckten Boden von Clems Box schlafen gelegt. Selbst als Vivi Ann älter und in der Schule beliebter wurde, betrachtete sie die Stute weiterhin als ihre beste Freundin. Ihre größten Geheimnisse hatte sie nur hier, in der süß duftenden letzten Box des Ostflügels, preisgegeben.
    Jetzt tätschelte sie Clem ein letztes Mal den Hals und verließ den Stall. Als sie das Farmhaus erreichte, erhellte eine verschwommene karamellfarbene Sonne den anthrazitgrauen Winterhimmel. Von ihrem Aussichtspunkt konnte sie das stahlgraue Wasser des Kanals und die schroffen, schneebedeckten Gipfel der fernen Berge sehen.
    Als sie in das düstere Haus trat, hörte sie das verräterische Knacken der Bodendielen und wusste, ihr Vater war aufgestanden. Sie ging in die Küche, deckte den Tisch für drei und machte Frühstück. Kaum hatte sie einen Teller Pfannkuchen zum Warmhalten in den Ofen geschoben, hörte sie, wie ihr Vater ins Esszimmer kam. Sie goss einen Becher Kaffee ein, gab Zucker hinein und ging damit zu ihrem Dad.
    Er nahm den Becher, ohne von seiner Western Horseman aufzublicken.
    Einen Augenblick stand sie nur da und fragte sich, womit sie ein Gespräch beginnen sollte.
    Er trug seine übliche Arbeitskluft: kariertes Flanellhemd, abgetragene Wrangler mit riesiger silberner Gürtelschnalle und Lederhandschuhe, die im Gürtel steckten – genau wie jeden Morgen. Und doch war etwas anders als sonst: ein paar Falten und Furchen, die ihn älter als sonst aussehen ließen.
    Die Jahre seit Mutters Tod hatten Spuren bei ihm hinterlassen, so dass seine Züge schärfer wirkten und Schatten zeigten, wo keine hingehörten: in seinen Augen und auf den darunterliegenden Tränensäcken. Sein Rücken war krumm; unvermeidlich bei einem Hufschmied, behauptete er, das natürliche Resultat vieler Jahre, in denen er sich über Pferdehufe gebeugt hatte, um sie zu beschlagen. Aber der Verlust seiner Frau hatte sein Übriges getan, davon war Vivi Ann überzeugt. Das Gewicht unerwarteter Einsamkeit hatte ihn genauso geformt wie das ewige Bücken bei der Arbeit. Aufrecht stand er nur noch in der Öffentlichkeit, und sie wusste, wie viel es ihn kostete, den Anschein zu erwecken, er sei vom Leben nicht gebeugt worden.
    Jetzt saß er am Tisch und las Zeitung, während Vivi Ann das Frühstück bereitete und auftrug.
    »Clem hat diesen Monat ein paar umwerfende Proberennen geliefert«, sagte sie und nahm ihrem Vater gegenüber Platz. »Ich glaube, wir haben wirklich eine Chance, das Rodeo in Texas zu gewinnen.«
    »Wo ist das Toastbrot?«
    »Ich hab Pfannkuchen gemacht.«
    »Zu Rührei gehört Toast. Das weißt du doch.«
    »Dann iss es mit den Bratkartoffeln. Wir haben kein Brot mehr.«
    Ihr Dad seufzte schwer, offenkundig war er gereizt. Vielsagend blickte er auf den leeren Platz am Tisch. »Hast du Travis heute Morgen schon gesehen?«
    Vivi Ann warf einen Blick aus dem Fenster. Aber ihr Rancharbeiter war nirgendwo zu sehen. Auch kein laufender Traktor oder eine Schubkarre neben dem Stall. »Ich hab die Pferde schon gefüttert. Wahrscheinlich repariert er den Zaun.«
    »Mit dem hast du auch wieder ’ne Niete gezogen. Wenn du nicht jedes kranke Pferd im Umkreis retten würdest, bräuchten wir gar keine Hilfe. Eigentlich können wir uns gar keine leisten.«
    »Apropos Geld, Dad … Ich brauche dreihundert Dollar für das Rodeo diese Woche, und die Kaffeedose ist leer.«
    Ihr Vater reagierte nicht.
    »Dad?«
    »Ich brauchte das Geld für das Heu.«
    »Etwa alles?«
    »Die Steuern waren auch fällig.«
    »Dann haben wir ein Problem«, erwiderte Vivi Ann und runzelte die Stirn. Es war nichts Neues, dass das Geld knapp war, aber zum ersten Mal machte es sich wirklich bemerkbar. Plötzlich verstand sie, warum Winona ständig lamentierte, man müsse Geld für die Steuern zurücklegen. Sie blickte kurz zu ihrem Vater. Er saß vornübergebeugt da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ihre Schwestern hätten das als ungehobelt angesehen, aber Vivi Ann war sich sicher, den wahren Grund zu kennen. »Tut dir dein Rücken wieder weh?«
    Er antwortete nicht, ignorierte die Frage einfach.
    Sie stand auf, ging in die Küche, holte ihm Schmerztabletten und legte sie auf den Tisch.
    Seine breite, schwielige Hand schloss sich um die Schachtel.
    »Ich finde schon einen Weg, um das Geld zu besorgen, Dad. Und ich werde diese Woche gewinnen. Vielleicht sogar zweitausend Dollar. Mach dir keine Sorgen.«
    Das restliche Frühstück verlief schweigend,
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