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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter
Autoren: Peter Hoeg
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Stöpsel gezogen, schwebt man oder steht man auf der Erde, keine Ahnung. Und das Gefühl des Schwebens ist keine Einbildung, die ganze Welt, die man spüren und wahrnehmen kann, ist völlig verändert.
    Es gibt noch eine Situation mit Conny, die weit zurückliegt, wir waren ungefähr sechs Jahre alt und im Kindergarten. Im ganzen Ort Finø gab es nur dreihundert Kinder und nur eine Schule und einen Kindergarten, das heißt, wir sind alle zusammen auf eine Schule und in einen Kindergarten gegangen.
    Die Brauerei Finø hatte dem Kindergarten so ein paar riesige Bierfässer aus Holz gespendet, die hatten sie hingelegt und aufgebockt und einen Boden eingebaut. Dann kamen kleine Türen und Fenster hinein, und die Fässer konnten als Spielhäuser benutzt werden. In einer dieser Tonnen habe ich Conny gefragt, ob sie sich vor mir ausziehen wolle.
    Sicher wirst du mich jetzt fragen, wo ich eigentlich den Mut hernahm, ich, der ich zu schüchtern wirkte, nach dem Weg zum Bäcker zu fragen, und ich muss ja tatsächlich auch sagen, es war wirklich einer der raren Momente in meinem Leben, in denen ich mich über mich selbst gewundert habe.
    Aber wenn du Conny mal sehen solltest, wirst du verstehen, dass es Frauen gibt, die aus einem Mann das Außergewöhnliche herauskitzeln können, auch wenn sie erst sechs Jahre alt sind.
    Sie entgegnete nichts. Sie fing einfach an, sich gemächlich auszuziehen. Als sie nackt war, hob sie die Arme und drehte sich ganz langsam vor meinen Augen. Ich sah den hellen Flaum auf ihrer Haut, das Fass um uns herum war rund wie ein Schiff oder eine Kirche und roch nach dem Bier, das seit hundert Jahren die Dauben durchtränkt hatte. Und ich begriff, dass das, was da zwischen Conny und mir geschah, mit dem Rest der Welt zu tun hatte.
    Der letzte Augenblick ist der stillste. Ich bin klein, vielleicht drei Jahre alt, denn wir haben eben Basker II bekommen, der ins Bett der Eltern gekrabbelt ist, wo ich auch geschlafen habe. Von dort lasse ich mich auf den Boden gleiten, stoße die Terrassentüren auf und gehe in den Garten. Es muss früher Herbst gewesen sein, die Sonne steht tief, und das Gras ist eisekalt und brennt unter den Fußsohlen. Zwischen den Bäumen sind große Spinnweben gespannt, an den Fäden hängen Tautropfen wie eine Million klitzekleiner Diamanten, die sich alle gegenseitig spiegeln. Es ist sehr früh, und der Morgen ist so frisch und neu und unmöglich zu wiederholen, als hätte es vor diesem nie einen anderen gegeben und als brauchte auch nie ein weiterer zu kommen, denn dieser hier währt ewig.
    In solch einem Augenblick ist die Welt vollkommen. Es gibt nichts mehr zu tun und niemanden, der es tun könnte, weil es keine Menschen mehr gibt, nicht einmal mich, die Freude füllt alles aus. Es dauert sehr kurz, dann ist es vorbei.
    Ich weiß, derlei Augenblicke gibt es auch in deinem Leben. Nicht die gleichen, aber ähnliche.
    Worauf ich dich aufmerksam machen möchte, sind die Sekunden, bevor einem die Einzigartigkeit der Situation aufgeht und man zu denken anfängt.
    Denn sobald die Gedanken kommen, ist man wieder im Käfig.
    Das ist das Finstre an dem Gefängnis, um das es sich hier handelt. Es besteht nicht bloß aus Stein und Beton und schwedischen Gardinen.
    Das wäre nämlich einfacher. Wären wir auf herkömmliche Art eingesperrt, würden wir schon noch eine Lösung finden, selbst so zurückhaltende Typen wie du und ich. Dann hätten wir aus Grenå oder Århus garantiert ein paar hundert Gramm dieses rosa Pulvers beschaffen können, das man für die Jetmotoren der Modellflugzeuge braucht, wenn der Große Drachen- und Segelflugtag auf Finø stattfindet. Und hätten todsicher ein rostfreies Rohr mit Gewinde an den Enden gefunden und zwei Schrauben für die Gewinde und hätten ein kleines Loch ins Rohr gebohrt und das Pulver eingefüllt und die Lunte einer Neujahrsrakete reingesteckt und damit eine anständige Öffnung in die Mauer gesprengt, und dann hätten sie uns nur noch hinterhersehen können.
    Aber das würde nicht reichen. Denn das Gefängnis, um das es sich hier handelt, ist unser aller Leben und die Art, wie wir es führen. Dieses Gefängnis ist nicht nur aus Stein gemauert, es ist auch aus Worten und Gedanken gemacht. Und wir helfen mit, es ständig zu errichten und in Schuss zu halten, das ist das Schlimmste.
    Wie damals, als mir Sonja Connys Frage stellte. Kaum war eine Sekunde vergangen, kaum hatte der Schock dieWelt verändert, kam diese Welt schon wieder zurück. Und zwar
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