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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers
Autoren: Robert Jackson Bennett
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EINS
    Als der Zug der Linie Neunzehn die Grenze Missouris überquerte, stand die Sonne tief am Himmel, und der Nachmittag wich langsam dem Abend. Auf den letzten paar Meilen hatte die Lokomotive eine Menge Dampf ausgestoßen. Als Tennessee hinter ihr zurückfiel, gewann sie an Geschwindigkeit. Ihre Räder sangen im Chor, und die Felder neben den Schienen verschwammen zu gelbsüchtigen Schemen. Der Schornstein spuckte eine frische Ladung schwarzen Qualm aus, der sich ausbreitete und sich wie ein großer finsterer Umhang auf die Waggons legte.
    Connelly kniff die Augen zu, als ihm der Qualm entgegenflog, und klammerte sich noch fester an die Außenwand des Viehwaggons. Er vermochte nicht mehr genau zu sagen, wie lange er nun schon dort hing. Vielleicht eine halbe Stunde. Vielleicht auch länger. Sein Arm war um ein gesplittertes Brett geschlungen, er hatte die Stiefel unten in die Spalten geklemmt. Jeder Knochen im Leib bereitete ihm Schmerzen.
    Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch den Qualm zu den anderen drei Männern hinüber. Sie klammerten sich mit ausdruckslosen Gesichtern fest. Einer rief dem Ältesten unter ihnen etwas zu, fragte, ob es bald so weit sei. Dieser schüttelte den Kopf und lachte.
    Zehn Meilen weiter wurde der Zug langsamer, und die Landschaft um Connelly herum nahm wieder Konturen an. Die Felder erschienen alle gleich: nichts als aufgesprungene rote Erde und schiefe Zäune. Manchmal arbeiteten Männer auf den Feldern; alle trugen sie Overalls, und ihre Gesichter waren so hoffnungslos wie das Land selbst. Den Zug betrachteten sie mit dem beeindruckten Staunen eines Jungen vom Lande. Ein paar lachten und riefen den Männern etwas zu. Aber die meisten verfolgten ihr Vorbeifahren gleichgültig.
    Der alte Mann vor Connelly kauerte sich an der Wagenseite zusammen, beobachtete die Räder, als hätte er es mit einem Raubtier zu tun. Er hielt drei Finger in die Höhe, winkte. Dann zwei. Dann einen. Er ließ sich vom Waggon fallen.
    Connelly folgte seinem Beispiel, und als er sich abrollte, sah er, dass die wild rotierenden, fauchenden Räder keine drei Fuß entfernt waren. Er rutschte weiter, bis er schließlich mit den anderen Männern in einem Graben zur Ruhe kam. Sie erhoben sich, klopften Staub und Dreck und Ruß aus den Kleidern und wischten sich übers Gesicht. Dann schlugen sie sich in die Büsche und warteten, bis von dem Zug nur noch ein Dröhnen und ein schwarzer Rauchstreifen am Himmel übrig waren.
    »Glaubt ihr, sie kommen zurück?«, flüsterte einer der jüngeren Männer. »Um nach uns zu suchen?«
    »Junge, hast du sie noch alle?«, sagte der alte Mann. »Kein Eisenbahnmann kommt zurück, um sich Ärger aufzuhalsen. Wenn wir runter sind, sind wir runter. Das war’s.«
    »Das war’s?«
    »Ja. Zähl deine Arme und Beine und deine Zähne, und setz deine Füße in Bewegung. Und deinen Verstand, wenn du einen hast.« Er kratzte sich unter seinem grauen Haar, grinste und ließ einen Mund voller krummer, gelber Zähne sehen.
    Sie schulterten ihre Bündel und setzten sich in Bewegung, gingen nach Westen, folgten den Schienen.
    »Wir hätten noch weiterfahren sollen«, meinte einer der Männer.
    »Ha«, sagte Grauhaar. »Hättest du das getan, dann sähst du jetzt nicht so frisch und munter aus, das garantiere ich dir. Vom Frachtboss willst du dich nicht erwischen lassen, nicht von dem. Der würde dich grün und blau schlagen.«
    »Den da wohl kaum«, erwiderte der Mann und zeigte auf Connelly, der alle um einen Kopf überragte. »Wie heißen Sie?«
    »Connelly.«
    »Haben Sie was zu rauchen?«
    Connelly schüttelte den Kopf.
    »Bestimmt nicht?«
    »Ja.«
    »Hm«, sagte der Mann und spuckte aus. »Ich finde trotzdem, wir hätten weiterfahren sollen.«
    Sie kamen zu einer alten Landstraße. Während sie gingen, wirbelten die Männer eine Staubwolke auf, die sich bis zu ihren Gesichtern auftürmte und ihre verrußten Kleider blutrot färbte. Zu beiden Seiten sah das Land aus wie der geflickte Mantel eines Landstreichers, die Hügel waren mit Weizen bedeckt, der flach am Boden lag, als wäre er von einer Windböe umgeknickt worden. Wurzeln lagen zur Hälfte im losen Boden begraben, ihre feinen, sich windenden Ranken griffen ins Leere. An einigen Stellen klammerten sich noch lebendige Gewächse an die Erde, und Männer standen um diese Stellen versammelt, wie um Leben in ihr Getreide zu pumpen. Als Connelly an ihnen vorbeiging, schauten sie mit angsterfüllten, brüchigen Blicken auf, und
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