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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter
Autoren: Peter Hoeg
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alle recht, auch die Insassen vom Store Bjerg .
    Das habe ich von meiner großen Schwester Tilte gelernt. Sie hat nämlich das Talent, dass sie allen recht geben kann und gleichzeitig ganz und gar davon überzeugt ist,dass sie als Einzige innerhalb eines sehr großen Umkreises weiß, wovon sie redet.
    Alle diese Menschen zeigen auf eine Tür, die Tür zu ihrem Lieblingszimmer, in dem sich Jesus oder Schuberts Lieder oder die staatliche Prüfung nach der neunten Klasse befinden oder ein ausgestopfter Bär oder feste Arbeit oder ein aufmunternder Klaps auf den Hintern, und selbstredend sind viele dieser Zimmer wirklich phantastisch.
    Aber solange du dich in einem Zimmer befindest, bist du drinnen, und solange du drinnen bist, bist du gefangen.
    Die Tür, die ich dir zeigen möchte, ist anders. Sie führt nicht in einen neuen Raum. Sie führt dich aus dem Gebäude heraus.
     
    Ich habe diese Tür nicht gefunden, mir fehlt das nötige Selbstvertrauen, meine Schwester Tilte hat sie gefunden.
    Ich war dabei, als es passierte, vor zwei Jahren, kurz bevor Vater und Mutter zum ersten Mal verschwanden. Ich war zwölf und Tilte vierzehn. Obwohl ich mich daran erinnere, als wäre es gestern gewesen, war mir damals natürlich nicht bewusst, dass sie die Tür entdeckt hatte.
    Wir hatten unsere Urgroßmutter zu Besuch, sie kochte gerade Buttermilchsuppe.
    Wenn Urgroßmutter Buttermilchsuppe macht, steht sie auf zwei Hockern übereinander, um an den Topf zu reichen und die Suppe rühren zu können, denn sie kam klein zur Welt, und später sind ihre Rückenwirbel sechsmal zusammengesackt. Dadurch ist sie so bucklig geworden, dass die Leute, die das oben erwähnte Reklamefoto schießen würden, aufpassen müssten, von wo aus sie das Bild machen, weil der Buckel nämlich so groß ist wie ein Schirmständer.
    Dafür sind viele, denen Urgroßmutter begegnet ist, der Meinung, Jesus könne bei seiner Wiederkunft auf Erden durchaus als dreiundneunzigjährige Dame erscheinen, denn Urgroßmutter ist der Inbegriff dessen, was man allliebend nennt. Das bedeutet, ihre Freundlichkeit ist so groß, dass sie Platz für alle hat, sogar für Typen wie Kaj Molester oder den ministeriellen Abgesandten auf Finø, Alexander Bister Finkeblod, der die Dorfschule leitet. Um den zu lieben, muss man schon seine Mutter sein, aber vielleicht reicht nicht mal das. Einmal habe ich nämlich gesehen, wie er seine Mutter von der Fähre abgeholt hat, und da sah sie ungelogen aus, als ob sie der Schlag träfe.
    Gleichzeitig soll man sich in unserer Urgroßmutter bitte nicht irren. Man wird nicht dreiundneunzig und überlebt mehrere der eigenen Kinder und sechs Sinterungsbrüche der Rückenwirbel und den Zweiten Weltkrieg und kann sich an das Ende des Ersten erinnern, ohne dass einen etwas Außergewöhnliches auf Trab hielte. Ich möchte mal so sagen: Wenn Urgroßmutter ein Auto wäre, dann stand die Karosserie, solange man denken kann, schon immer kurz vor dem Zusammenbruch. Aber der Motor! Der brummt, als wäre er in der Minute aus der Fabrik gekommen.
    Was die Sprache anbelangt, ist sie allerdings recht sparsam, sie verteilt ihre Worte wie Bonbons, als hätte sie nicht mehr viel davon übrig, und das hat man vielleicht auch nicht, wenn man dreiundneunzig ist.
    Das heißt, wenn sie plötzlich, ohne den Kopf zu drehen, verlauten lässt: »Ich möchte gerne etwas sagen«, sind wir mucksmäuschenstill.
    Wir – das sind meine Eltern, mein großer Bruder Hans, Tilte und ich und unser Hund Basker III, ein Foxterrier:Basker nach dem Roman über den Hund von Baskerville, und III, weil er zu Tiltes Lebzeiten der dritte dieser Rasse war, den wir besaßen, und sie hat verlangt, dass jeder neue Hund nach dem Tod des alten denselben Namen tragen solle, nur mit einer höheren Nummer. Immer wenn Tilte Leuten, die noch nicht das große Vergnügen hatten, uns kennenzulernen, den Namen des Hundes verrät, nennt sie auch die Nummer. Dann geht ein kleiner Ruck durch die Leute, vielleicht weil sie an die vor Basker gestorbenen Hunde denken, und ich glaube, genau deswegen hat sich Tilte den Namen ausgesucht. Sie ist nämlich immer am Tod interessiert gewesen, mehr als Kinder sonst.
    Jetzt, wo Urgroßmutter etwas sagen will und sich in den Rollstuhl setzt, stützt sich Tilte auf den Küchentisch und hebt die Beine hoch, so dass Urgroßmutter unter sie fahren kann. Tilte will immer auf Urgroßmutters Schoß sitzen, wenn diese etwas zu sagen hat, aber Urgroßmutter ist mit der Zeit
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