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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter
Autoren: Peter Hoeg
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hochhackigen Goldschuhe aus, setzt den grünen Turban ab, lässt ihn fallen und nimmt eine Tasche von jemandem, der neben ihr steht. In der Hand hält sie ein schnurloses Mikrophon, sie legt es auf den Boden, dann hebt sie ihr Kleid an. Und fängt an zu rennen. Auf uns zu. Barfuß. Über die Schneewehen, an den Männern auf der Bank vorbei. Und schon ehe sie halb über den Platz ist, sehe ich, dass sie in Tiltes Alter ist oder etwas älter und dass sie die vierhundert Meter in unter einer Minute schafft.
    Als sie die Kutsche erreicht, springt sie wie ein Grashüpfer neben Hans auf den Bock, und während sie noch halb in der Luft hängt, schreit sie: »Fahr los, Mann! Los! Ich hab euch herbestellt!«
    In der Prozession entsteht Unruhe, Menschen werden beiseitegeschubst, zwei Männer im Anzug befreien sich aus der Gruppe und sprinten auf uns zu. Wir wissen alle vier, dass sie hinter der Sängerin her sind. Und wir wissen allesamt, dass wir auf ihrer Seite stehen. Ich sage klipp und klar wieso. Mit der Stimme könnte sie Kinderschänderin oder Tierquälerin sein, ich würde sie trotzdem zu retten versuchen, und ich weiß, dass es Tilte und Basker genauso geht.
    Aber wir brauchen Hans, und einen kurzen Moment ist uns nicht klar, ob er der Aufgabe gewachsen ist.
    Es ist nämlich leider eine Tatsache, dass Hans das mit den Damen noch nicht kapiert hat.
    Was umso peinlicher ist, als die Damen das mit Hans schon längst kapiert haben. Wenn er gegen acht Uhr abends die Toiletten im Hafen gereinigt und die Liegegebühr abkassiert hat, weil er im Juni und Juli den Hafenmeister vertritt, warten mindestens schon drei der Sommerschönstenund wollen ihn ausführen. Aber Hans auszuführen ist leichter gesagt als getan, denn schon nach den ersten Schritten fängt er an, die Mädchen zu umkreisen, als hielte er nach etwas Ausschau, vor dem er sie beschützen müsste, oder als suchte er einen tiefen Tümpel, in den er sich mit dem Bauch zuerst werfen könnte, damit sie trockenen Fußes hinüberkämen.
    Der springende Punkt ist, dass mein Bruder achthundert Jahre zu spät geboren wurde, er ist in der Ritterzeit zu Hause, er sieht alle weiblichen Wesen als Prinzessinnen, denen man sich nur ganz behutsam nähert, indem man zum Beispiel Lindwürmer erschlägt oder sich vor ihnen auf den Bauch wirft.
    Aber, nun ja, die Mädchen auf Finø gehen zum Taekwondo oder ziehen mit sechzehn nach Århus und fliegen mit siebzehn als Austauschschülerin für ein Jahr nach Amerika, und falls sie einem Lindwurm begegnen, wollen sie wahrscheinlich mit ihm gehen, oder sie nehmen ihn auseinander und schreiben eine Biologiehausarbeit über das, was übrig bleibt. Ich will damit sagen, Hans hatte noch nie eine feste Freundin, und jetzt ist er neunzehn, und die Zukunftsaussichten sind nicht gerade rosig, um ehrlich zu sein. Auch jetzt steht er wieder dumm da und glotzt wie ein Wesen, das der Naturführer auf Finø aufgetrennt hat und das ausgestopft werden soll, bis Tilte ihn anbrüllt:
    »Jetzt komm in die Gänge, du Tölpel-Hans!!«
    Das bringt endlich Leben in ihn: Tiltes Gebrüll einerseits und andererseits der Umstand, dass die beiden Männer einen respektablen Spurt hinlegen und den Platz schon halb überquert haben, der Gedanke ist also nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es hier um die Rettung einer Prinzessin geht.
    Wenn ich gerade – entre nous – despektierlich über meinen Bruder gesprochen habe, so muss um der Gerechtigkeit willen auch Folgendes gesagt sein: Er versteht es, mit Pferden umzugehen. Von April bis September ist die Stadt Finø mit Ausnahme von Kranken- und Lieferwagen für Motorfahrzeuge gesperrt, dann kutschieren wir die Touristen in Droschken und kleinen elektrischen Golfwagen herum, für die Tour vom Hafen bis zum Marktplatz nehmen wir zweihundertfünfzig Kronen, die dazu beitragen, dass Finø wie eine Postkarte aussieht und die Insel in den einarmigen Banditen des Kattegats verwandelt wird, sagen wir’s doch, wie es ist!
    Alle auf Finø können Kutsche fahren, aber keiner wie Hans, er fährt die Dinger wie einen Sulky auf der Trabrennbahn in Århus, vielleicht hat es damit zu tun, dass die Pferde, wenn sie nicht gehorchen, immer riskieren, auf den Rücken geworfen und am Bauch gekitzelt zu werden, und das wissen sie ganz genau.
    Die Peitsche benutzt er nie, jetzt auch nicht, er macht bloß ein Geräusch mit dem Mund und schlägt mit den Zügeln, und unsere vier Gäule springen wie die Wildkaninchen, und schon verschwindet
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