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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter
Autoren: Peter Hoeg
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verlassen und allein.
    Ich kann nicht in der Küche bleiben. Ich stehe leise auf und verlasse das Haus. Ganz langsam gehe ich bis dahin, wo der Wald anfängt. Die Nacht ist schwarz und der Himmel weiß von Sternen. Es ist nicht mehr der Himmel, den ich einst in der Touristenbroschüre beschrieb, auch er ist ein anderer. Es sind Sterne hinzugekommen. Es scheinen so viele zu sein, dass sie allmählich das Kommando übernehmen. Als wäre der Nachthimmel dabei, das Gewicht zu verlagern, von dem Bein, das die Dunkelheit ist, auf das, welches das Licht von den Sternen ist.
    Dann lege ich den Arm um die Einsamkeit, zum ersten Mal merke ich nämlich, dass es ein Mädchen ist. Und zum ersten Mal in meinem Leben höre ich auf, mich zu trösten, um mir das Einsamkeitsmädchen vom Leibe zu halten.
    Das, was gerade geschieht, ist das, was ich immer am meisten gefürchtet habe. Ich bin dabei, alles und alle zu verlieren. Das war es, was ich in Connys Wohnung in derToldbodgade habe kommen sehen. Aber jetzt ist es stärker und sehr wirklich. Nun ist Hans weg, Tilte ist weg, und Urgroßmutter ist weg. Bald wird der Pfarrhof entvölkert sein. Mutter und Vater werden auch weg sein.
    Jetzt wirst du vielleicht sagen, dass doch wahrscheinlich Conny da sein wird. Aber in diesem Moment hilft der Gedanke nicht. Denn ich spüre, dass gegen die Einsamkeit, die ich hier im Arm halte, selbst die Geliebte nichts ausrichten kann.
    Einsamkeit bedeutet, in das Zimmer eingesperrt zu sein, das »man selbst« heißt, das verstehe ich zum ersten Mal in meinem Leben. Dass man selbst ein Raum im Gefängnis ist und sich dieser Raum immer von anderen Räumen unterscheiden wird, und deshalb wird er immer auf bestimmte Weise allein und immer innerhalb des Gebäudes sein, weil er ein Teil davon ist.
    Besser kann ich es nicht erklären. Aber es fühlt sich unüberwindlich an.
    Ich halte die Unüberwindlichkeit im Arm. Ich drücke sie an mich, und ich versuche nicht, mich zu trösten, das kann ich ehrlich sagen. Ich merke, wie sehr ich die anderen hinter mir in der Nacht liebe, Vater und Mutter, Tilte und Hans und Basker und Conny und Urgroßmutter und Jakob und Aschanti und Rickardt und Nebukadnezar Flyvia Propella, alle meine Menschenzimmer.
    Dann geschieht etwas.
    In gewisser Weise ist es wie auf dem Fußballplatz. Wenn die Verteidiger auf dich zukommen, bist du schnell hypnotisiert. Und starrst auf die Gegner, die Hindernisse. Du siehst nicht auf die Öffnungen zwischen ihnen, die Zwischenräume.
    Aber das tue ich jetzt, es kommt ganz von selbst. Ichverschiebe meine Aufmerksamkeit. Vom Dunkel der Nacht zum Licht der Sterne. Ich verwende eine Aufräumer-Finte meinem eigenen Bewusstsein gegenüber. Meine Aufmerksamkeit ist auf die eine Seite gerichtet, auf die Einsamkeit. Aber ich gehe zur anderen Seite. Vom Gefühl der Einsamkeit zu dem, was darum herum ist. Vom Eingesperrtsein in mir selbst, in den Sorgen und Freuden, die Peter Finø ausmachen und die im Leben aller Menschen wie kleine schwimmende Inseln sind, von diesem Eingesperrtsein verlagere ich die Aufmerksamkeit auf das, worin die Inseln schwimmen.
    Das ist alles. Das ist etwas, was jeder kann. Ich modele nichts um. Ich versuche nicht, die Einsamkeit zu vertreiben. Ich lasse sie einfach los.
    Sie fängt an, sich zu entfernen. Das Mädchen Einsamkeit fängt an, sich zu entfernen, dann ist es weg.
    Was zurückbleibt, bin einerseits »ich«. Aber andererseits ist es schlicht ein sehr tiefes Glück.
    Ich höre Schritte hinter mir, es ist Conny. Sie stellt sich dicht neben mich.
    »Wir sind alle Zimmer«, sage ich, »und solange man ein Zimmer ist, ist man gefangen. Aber es gibt einen Ausweg, und der geht nicht durch eine Tür, denn es gibt keine Tür, die offen ist, man muss stattdessen die Öffnung wahrnehmen.«
    Sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände.
    »Die einen haben das Glück, intelligente und tiefsinnige Geliebte zu haben«, sagt sie. »Und dann gibt es uns andere, die nehmen müssen, was sie kriegen.«
    Dann küsst sie mich. Und dreht sich um und geht zum Pfarrhaus zurück.
    Ich muss gestehen, dass ich eine Spur erschüttert bin.Über das eine wie das andere. So dass ich stehen bleibe. Es gibt Momente, in denen ein Mann allein sein muss.
    Es hat zu regnen angefangen, ein ganz leichter Nieselregen. Es ist, als hätte der Regen die Dankbarkeit mitgebracht. Ohne dass ich sagen könnte, ob man dies Phänomen im Dänischen Meteorologischen Institut ernst nimmt. Ich empfinde eine überwältigende Freude.
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