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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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bloß der Unwille, mir einen Maulkorb anlegen zu lassen, der da zu mir sprach. Ich fürchtete mich schlechthin vor dem Rektor. Er war zwar ein recht kleiner Mann, strahlte aber großen Stolz und eine überwältigende Autorität aus. Vor allem schüchterten mich seine schmalen, durchdringenden Augen ein. »Ihr gehört nun zu den Besten. Einst werdet ihr dieses Land führen.« Mit diesen Worten war er am ersten Uni-Tag meinem Jahrgang entgegengetreten. Jetzt hatte ich es gewagt, diesem Mann öffentlich zu widersprechen.
    Eilig verließ ich die »Marienburg«, das spätbarocke Gebäude, in dem die Verwaltung und das Rektorat untergebracht waren. Ich überquerte den Campus, ohne einen Blick zur Seite zu riskieren. Allein bis gestern war über den E-Mail-Verteiler der Studierenden ein Dutzend Mails eingegangen, die über mich herzogen. Auch sie verlangten, dass ich verstummte. Ich wollte nur noch von hier verschwinden.
    Als ich eines der neuen Vorlesungsgebäude passierte, bewegte sich etwas neben mir. Es war mein Spiegelbild, das von der Glasfassade reflektiert wurde. Mein Kopf war zwischen den hochgezogenen Schultern versunken, die Arme wirkten steif und führten direkt zu den schwarzen Hosentaschen, in denen sich meine zu Fäusten geballten Hände versteckten, und meine Schritte überschlugen sich, als würde ich jeden Moment losrennen. Ich kam mir selbst wie ein flüchtender Dieb vor, der von dem strengen Auge des Gebäudes erfasst worden war. Trotzdem bremste ich meinen Schritt und versuchte die Schultern zu entspannen, um nicht gleich jedem aufzufallen.
    Nachdem ich den Campus hinter mir gelassen hatte, schlug ich einen anderen Weg ein als sonst. Seit eineinhalb Jahren war ich schon in der kleinen Stadt Vallendar, wo die Uni angesiedelt war, und kannte mittlerweile sämtliche Straßen und Gassen. Ich machte einen großen Bogen um die gepflasterte Einkaufsstraße, die ich normalerweise durchquert hätte. Oft kaufte ich mir dort auf dem Weg nach Hause ein belegtes Brötchen. Dabei ging ich immer zu derselben Bäckerei, wo ich inzwischen mit den Worten »Na, fertig für heute?« begrüßt wurde. Der Verkäufer war ein freundlicher älterer Mann, der schon über sechzig sein musste – ein typischer Vallendarer. Meinem Eindruck nach bestand nämlich die Mehrheit der achttausend Einwohner aus Menschen seines Alters. Ihnen war bewusst, dass junge Leute wie ich nur wegen der Wirtschaftsuni hierherzogen. Und auch ich erkannte mittlerweile schon aus der Entfernung die Studenten und wusste sogar, wo die meisten lebten. Deshalb wählte ich heute einen verwinkelten Weg. Er war nicht der kürzeste, dafür aber fast menschenleer. Unbemerkt erreichte ich schließlich meine Wohnung.
    Als die Tür hinter mir zuging, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen sie. Ich ließ meinen Kopf nach hinten gleiten, bis er mit einem leisen dumpfen Geräusch das Holz berührte. An den Barthaaren meiner Oberlippe spürte ich die warme Luft, die stoßweise meine Nase verließ. Minuten vergingen, bis das rasche Stakkato meines Atems zur Ruhe kam.
    Das war die Einzimmerwohnung, in der ich schon seit Monaten oft bis spät in die Nacht geschuftet hatte. Zum ersten Mal lief ich nicht geradewegs zum Schreibtisch, um meine Lernsachen auszupacken. Ich sah den Raum mit seinen kahlen, weißen Wänden und Dachschrägen. Mein Kleiderschrank war zu hoch, um hier reinzupassen. Deshalb standen in einer Ecke zwei Umzugskartons voll mit gefalteten Klamotten. Neben ihnen auf dem Boden lag meine Matratze. Schlafen und Lernen – das war eigentlich alles, wofür ich diese Wohnung benutzte. Die Gitarre ruhte in ihrem schwarzen Koffer, auf den sich bereits mehrere Staubschichten abgesetzt hatten. Bei meinem Einzug hatte mir die Eigentümerin gesagt, dass vor mir ein anderer Student hier gelebt habe. Sie vermiete nur an Studenten. Bei denen komme das Geld pünktlich aufs Konto und dafür nehme sie es hin, dass alle paar Monate die Mieter wechselten. Schrammen und Kratzer in der Tapete zeugten von den vielen Umzügen.
    Ich drückte mich von der Tür weg, ging sechs Schritte und stoppte vor einem Bild an der Wand: Darauf waren Milad, Masoud, Timo, Dario und ich. Wir standen in Badehosen und orangefarbenen Schwimmwesten am Ufer eines Sees. Außer uns, unseren zwei Kanus, dem klaren Wasser, in dem sich der wolkenlose Himmel spiegelte, und ein paar Nadelbäumen war niemand zu sehen. Ich erinnerte mich gern daran: Nachdem wir das Foto geschossen hatten, paddelten wir über den
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