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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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Zuerst muss ich von mir erzählen.
    Und ich fange ganz am Anfang an.
    Die Geschichte der Kindheit
    Als Kind hatte ich viele Freunde. Fast ausschließlich Jungen. Die Mädchen konnten wenig mit mir anfangen. Ich war zu laut, zu grob, zu schnell, meist war ich schmutzig, die Arme voller blutiger Kratzer, die Beine voller blauer Flecken.
    Ich war ein wildes Kind.
    Im Garten meiner Großeltern gehorchte mir alles. Der Bach hinter dem Haus, die Insekten und die Pflanzen, die Nüsse und die Beeren, die Eichhörnchen und die Fische, der Teich und die Frösche darin, alles unterstand mir. Nur die Krähen hatten ihren eigenen Kopf, und ich fürchtete mich vor ihnen.
    In den Ferien verbrachten wir oft ganze Tage im Garten, aber auch während der Schulzeit kamen die Jungen nachmittags vorbei. Niemand sonst hatte einen Garten wie meine Großeltern, weitläufig und verwinkelt, und darin gab es alles, Schilf um den Teich, hohe Bäume, ein kleines Gartenhaus voller Spinnweben und einen steinigen, schmalen Weg, der hinunter zum Bach führte. Dort, am Ufer und auch im Bach selbst, spielten wir vor allem im Sommer. Wir häuften Geröll und Äste zu Inseln an, auf denen wir standen und einander zuwinkten.
    Unsere Vorhaben waren stets ehrgeizig und aussichtslos. Ein Boot wollten wir bauen, eine Brücke, einen Damm. Im Herbst verlegten wir unsere Spiele wieder zurück in den Garten. Unter dem Kastanienbaum errichteten wir aus Ästen, aus Laub, aus Ziegeln, die wir im Keller gefunden hatten, Burgen für die Ewigkeit. Wir spielten zu jeder Jahreszeit draußen. Auch im Winter, auch, wenn es schon früh dunkel wurde und meine Großmutter sich um uns fürchtete. Nur mein Onkel Paul konnte uns überreden, ins Haus zu kommen. Dann durften wir in sein Zimmer, wo alles besonders und anders war: Seine Steinsammlung zeigte er uns, und seine elektrische Schreibmaschine. Paul wollte uns beibringen, Schach zu spielen, aber uns wurde schnell langweilig. Mir wurde schnell langweilig, und ich gab den Ton an. Mir war nicht danach, still zu sitzen und kleine Holzfiguren vor- und zurückzuschieben. Mir war nach großen Expeditionen. Meine Pläne trug ich mit Bestimmtheit vor. Jeden Nachmittag entwarf ich einen neuen Kosmos, legte den Handlungsverlauf unserer Spiele fest, bis in jedes Detail, bis in die Unterhaltungen: Du würdest zum Haus des Jägers kommen, und ich wäre bereits dort. Du würdest fragen, und ich würde sagen.
    Bei anderen Spielen ging es genau darum, nichts zu planen, nichts zu wissen. Es ging darum, sich im Wald zu verlieren und aufspüren zu müssen. Es ging darum, schneller als der andere zu sein, weniger Angst zu haben. Eines unserer wilderen Spiele bestand darin, dass wir hoch in die Bäume kletterten und uns in die flachen Baumkronen fallen ließen. Wenn uns das Netz der Zweige nicht hielt, krachten wir hinunter auf den Waldboden. Ich zog mir unzählige Kratzer und blaue Flecken zu, aber anders als meine Großmutter es mir voraussagte, brach ich mir nie einen Arm oder ein Bein.
    Meine Großeltern waren immerzu in Sorge um mich. Sie fürchteten, ich würde im Bach ertrinken, ich würde beim Überqueren der Landstraße überfahren, dass mich ein namenloser, schwarz gekleideter Mann, der in den Städten und in den Dörfern die Kinder verschwinden ließ, mitnähme.
    Vergeblich versuchten sie, meine Mutter davon zu überzeugen, dass es gefährlich sei, uns den halben Vormittag unbeaufsichtigt im Wald oder am Bach spielen zu lassen. Meine Mutter aber glaubte nicht an Verbote und nicht an Beaufsichtigung.
    »Es ist gut für Nina und Marie, wenn sie sich allein zurechtfinden«, sagte meine Mutter bei jeder Gelegenheit, und ich nickte stolz, denn aus ihren Worten schloss ich, dass wir uns allein zurechtfanden.
    Ich habe erst viel später verstanden, dass die Überzeugungen meiner Mutter, was für meine Schwester und mich gut sei, im Wesentlichen davon abhingen, was für meine Mutter gut war. Etwa zwei Jahre nach Ninas Geburt hatte meine Mutter erkannt, dass es nicht gut für ihre Töchter sei, in der Stadt aufzuwachsen, und war zurück nach Erlburg gezogen, ein kleines Dorf, in dem auch sie selbst großgeworden war. Es sei gut für uns, erkannte sie weiter, im Kreis der Familie aufzuwachsen. Dass wir hierfür unseren Vater zurückließen, war nicht weiter wichtig, und so zogen wir ohne ihn in das Haus meiner Großeltern, in dem auch mein Onkel Paul lebte.
    Gut zehn Jahre später hatte meine Mutter genug vom Dorfleben. »Es ist viel zu ruhig
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