Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
Vom Netzwerk:
blickten uns fragend an, zuckten die Achseln und ließen uns darauf ein. Dann drückte sie jedem eine kleine Scheibe in die Handfläche. »Vor vielen Jahren wolltet ihr nur ein kleines Rennen mit euren Tschar-tscharche , aber daraus wurde ein ernstes Rennen um euer Leben. Trotz aller Hindernisse habt ihr das Ziel erreicht. Ihr seid meine Sieger. Ich bin so stolz auf euch.«
    Ich öffnete meine Augen. In meiner Hand lag ein Stück Kindheit. Bilder von drei kleinen Jungen in einer Werkstatt stiegen auf, von iranischer Sommerhitze, einem Rosenbusch, Plakaten. Madar hatte tatsächlich die Holzscheiben von unseren Seifenkisten aufbewahrt. Ich dachte an den Tag, an dem wir das große Rennen veranstalten wollten und stattdessen mit dem Schlepper nach Deutschland flohen. Ich umklammerte die Holzscheibe mit dem geschwungenen »
م
« – dem persischen Buchstaben »m« – und steckte sie in meine Hosentasche.
    »Lasst euch drei niemals auseinanderbringen!«, sagte Madar noch, bevor wir aus der Wohnungstür traten.
    Zu sechst quetschten wir uns in unseren alten Mitsubishi Lancer und tuckerten zur Gempthalle, einer umgebauten Fabrik in Lengerich. Vor dem Eingang standen bereits viele meiner Mitschüler mit ihren Eltern in feinster Garderobe. Fast sahen sie verkleidet aus – die Jungen in ihren Anzügen, glattgebügelten weißen Hemden und Krawatten, die Mädchen in ihren langen glänzenden Kleidern und mit Hochsteckfrisuren. Ich versuchte Timo und Dario unter den Anzugträgern auszumachen. Vor der Zeremonie musste ich sie unbedingt sprechen. Jede Ecke lief ich ab: den Rasen um die Halle, das Foyer, den Festsaal mit den weißgrauen Säulen und Glasfronten, die den Raum mit Sonnenlicht fluteten. Ich ging die Stuhlreihen durch, die im Haupttrakt aufgestellt und mit Blumensträußen geschmückt waren. Ich fand sie nirgends.
    Nach einer halben Stunde, als ich vor Aufregung fast platzte, kamen Timo und Dario mit ihren Eltern vom Parkplatz herübergeschlendert. Eigentlich sollte Dario, der heute ebenfalls sein Zeugnis bekam, im Mittelpunkt stehen, aber Timo zog alle Blicke auf sich. Er trug einen schwarzen Anzug mit einer knallroten Krawatte, die fast so auffällig war wie seine nagelneuen weißen Turnschuhe.
    »Da sind ja meine Einserabiturienten! Wie fühlt ihr euch?«, begrüßte er uns.
    »Ich dachte schon, ihr würdet gar nicht mehr auftauchen, und wir müssten alleine feiern«, beschwerte ich mich und klopfte auf meine Uhr. »Es gibt tolle Neuigkeiten!«
    Dass wir drei bereits Zusagen von Unis erhalten hatten, wussten die zwei schon. Mojtaba hatte sich auf Empfehlung seiner Lehrerin an der privaten Wirtschaftshochschule » WHU  – Otto Beisheim School of Management« beworben, die in einer Burg nahe Koblenz untergebracht war. Sie besaß den Ruf, die beste Wirtschaftsuni Deutschlands zu sein. Ich hatte mich an der »International University Bremen« beworben, um mit Studenten aus mehr als hundert Ländern Politik und Geschichte zu studieren. Die private Universität auf dem Gelände einer alten Kaserne warb mit einem englischsprachigen Studium, kultureller Vielfalt und einer weltoffenen Sichtweise – genau das, wovon ich träumte. Milad wollte Informatik studieren und bemühte sich um einen Platz an der privaten »International University« in Bruchsal unweit von Karlsruhe.
    Wir drei nahmen an einer Sprachprüfung teil, verfassten Motivationsschreiben, baten unsere Lehrer um Empfehlungsgutachten und füllten unzählige Formulare aus. Mojtaba durchlief außerdem eine schriftliche Prüfung und darüber hinaus einen mündlichen Eignungstest. Auch Milad musste sich in einem Einzelgespräch einem Dozenten seines Faches stellen. Am Ende waren wir alle da, wo wir hinwollten. Jedenfalls beinahe: Denn die privaten Unis verlangten hohe Gebühren. Viel mehr, als sich eine Krankenschwester und ein Leiharbeiter leisten könnten. Deswegen bewarben wir uns auf Stipendien.
    »Als Strafe dafür, dass ihr zu spät gekommen seid, habe ich eine Matheaufgabe für euch.« Ich knuffte Dario in die Seite. »Du bist doch so gut im Kopfrechnen: Was machen 7500 plus 7500 plus 10 000 pro Jahr zusammen?«
    Er machte ein verwirrtes Gesicht. Aber als er kurz danach zu lächeln begann, hatte er begriffen, worauf ich hinauswollte. »Ihr habt sie tatsächlich bekommen?«
    »Kann nicht wahr sein! Ihr seid echt unglaublich!«, japste Timo und umarmte mich stürmisch. »Insgesamt sind das ja 25 000 Euro, die ihr pro Jahr nicht zahlen müsst. Wie habt ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher