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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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»versteh mich bitte nicht falsch. Es tut weh, zu erfahren, wie es dir dort geht. Aber ich hatte die Hoffnung, dass dir diese Uni eine sichere Zukunft beschert.«
    Madar hatte uns seit dem ersten Tag in Deutschland versichert, dass wir es in der Zukunft gut haben könnten, wenn wir erfolgreich in der Schule wären. »Ich weiß«, antwortete ich bemüht sanft. »Aber worauf läuft diese Zukunft tatsächlich hinaus? Bei uns treten Dozenten vor den versammelten Jahrgang und behaupten unbekümmert: ›Ihr seid hier, weil ihr reich werden wollt.‹ Und das geeignetste Mittel dafür seien Investmentbanken oder Unternehmensberatungen – das Nonplusultra für WHU -Studenten. Genauso treten diese Unternehmen auch auf. Sie fahren mit dicken Autos über den Campus, bringen junge Leute in teuren Anzügen mit, die für das Unternehmen werben sollen. Sie erzählen, wie viel sie herumkämen, wie wichtig ihre Kunden seien und – vor allem betonen sie – dass man bereits im ersten Jahr achtzig- bis hunderttausend Euro verdiene. Aber weißt du, was sich wirklich dahinter verbirgt? Eine gute Freundin von mir, die früher solche Werbung genauso absurd empfand wie ich, hat sich doch erweichen lassen, und ein Praktikum bei der Investmentbank J. P. Morgan angetreten. Bitter enttäuscht hat sie mir später davon erzählt: von den zermürbenden Arbeitszeiten – siebzig Stunden pro Woche waren völlig normal –, von der unkollegialen Atmosphäre, vom Konkurrenzkampf unter den Kollegen. Aber das sei völlig verständlich, meinte sie dann, die meisten wollten ohnehin nur möglichst reich werden. Sie hat das alles kritisiert, aber ich befürchte, dass sie nach dem Studium trotzdem in so einem Laden versacken wird. Und ich habe Angst davor, mich auch zu verändern. Als ich mich für diese Uni entschied, träumte ich von rosigen Zeiten. Ich hoffte, dass sie mir die Möglichkeit geben würde, ein schöneres Leben mit euch und mit meinen Freunden zu haben. Natürlich hatte ich dabei auch an die finanzielle Sicherheit gedacht. Ich malte mir aus, was wir mit mehr Geld alles machen könnten. Aber das steht mir so nicht bevor. Weder während des Studiums noch danach wird mein Leben so sein, dass ihr darin einen wichtigen Platz haben könnt. Job, Geld und Karriere werden langsam zum Selbstzweck. Das will ich nicht.«
    »Und das verstehe ich. Mir ging es auch nie um viel Geld. Ich habe oft gekämpft, aber niemals für Reichtum.« Madars Blick schweifte ab. »Ich erinnere mich noch genau, wie sehr ihr euch auf die Unis gefreut hattet«, murmelte sie in den Raum hinein. Ihre Stimme klang wehmütig – vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich selbst fühlte, wie meine schönen Träume von damals zerrannen.
    »Die meisten schwärmen, wenn sie erfahren, dass ich ein WHU -Student bin. Ich hätte es geschafft, sagen sie. Zur sogenannten Elite zu gehören, ist der Traum vieler Menschen – es ist die Vorstellung von einem idealen Lebensweg. Und wer ihn sogar als Ausländer beschreite, heißt es, biete ein Beispiel für perfekte Integration. ›Erfolgreiche Deutsche‹ und ›integrierte Ausländer‹ treffen sich hier also. Aber ich bin damit unglücklich. Und das nicht nur wegen der Ziele an der WHU . Milad sehe ich heute nach zwei Monaten wieder, dich und Masoud habe ich fast genauso lange nicht gesehen. An der WHU erwarten mich demnächst ein halbes Jahr Praktikum in Brüssel und dann direkt weitere sechs Monate Auslandssemester in Uruguay. Für ein langes Jahr müsste ich euch fast gänzlich aus meinem Leben streichen. Mal von Dario und Timo abgesehen, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr getroffen habe.«
    Ich steckte meine rechte Hand in die Hosentasche und griff nach der Scheibe, die ich noch schnell aus der Wohnung mitgenommen hatte. Ich legte sie mit unserem Initial nach oben auf den Couchtisch. »Madar, erinnerst du dich noch, wie du sie uns am Abi-Tag in die Hand gedrückt hast? ›Lasst euch niemals auseinanderbringen!‹ Das hast du uns damals gesagt. Wenn ich an der WHU bleibe, wird aber genau das passieren.«
    Madar schwieg. Sie starrte mit unbewegter Miene auf die Scheibe, als würde der Anblick ihre Gedanken auf eine Reise schicken. Eine Reise durch unsere Vergangenheit. Als sie den Blick wieder davon löste und den Kopf hob, sah ich in ihren Augen dieselbe Entschlossenheit, mit der sie die Flucht aus dem Iran angetreten hatte. Madar nahm das Holzstück in die Hand und hielt es mir hin. »Diese rote Scheibe war dabei,
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