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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Arm. Der Zug ruckte an, der Schaffner sprang auf und hauchte in seine Hände. Diese Kälte! Welch ein Land, dieses Sibirien!
    Im Winter müßte man ein Bärenfell haben, und im Sommer hatte man Lust, nackt herumzulaufen.
    Mulanow wollte in sein Schaffnerabteil gehen und kam dabei an Nummer dreiundzwanzig vorbei.
    Leise schob er die Türe auf und lauschte. Das alte Ehepaar schlief, auch das Mädchen links oben war ruhig. Aber unten links herrschte rege Tätigkeit. Das Bett knirschte und knackte.
    »Alles in Ordnung, Klaschka?«
    »Ein guter Tag, Boris Fedorowitsch!« Klaschkas Stimme klang etwas belegt, ohne daß das Rumoren unterbrochen wurde. »Für dich fünfzehn Rubelchen!«
    Zufrieden schob Mulanow die Tür wieder zu. Er sparte auf einen Moskwitsch-Wagen, und so ein Auto, Freunde, ist für einen Schaffner eine teure Sache …
    Leise verließ Werner Forster sein Abteil und tastete sich durch die nur schwach erhellten Gänge zu den Wagen der zweiten Klasse.
    Wer war dieses Mädchen? dachte er. Warum versteckte es sich und sprang erst im letzten Augenblick in den Zug? Ohne Gepäck, angezogen, als käme es direkt aus einer Arbeitskolonne?
    Wo war es geblieben?
    Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte der Deutsche das Gesicht der Unbekannten gesehen, ihre Augen, groß, aber gehetzt, und randvoll mit Angst. Ein Blick, der sich in ihn eingebrannt hatte.
    Sie hat auch mich gesehen, dachte er. Sie muß mich am offenen Fenster gesehen haben, und mit wilder Verzweiflung hat sie sich in den Zug geworfen. Sie hat mich doch auch angesehen – mit einem Blick, der mich beinahe zerschnitt! Wie kann ein Mensch einen solchen verzweifelten Blick haben?
    Er tappte weiter, kam in die zweite Klasse und begann, systematisch alle Reisenden zu mustern. Sechzig in jedem Wagen.
    Ein Konzert aus schlafenden Mündern, Wolken von Ausdünstungen … Er sah verkrümmte Körper auf den Sitzen, Kinder in den Gepäckablagen und Menschen, in Decken und Mäntel gewickelt, auf dem Mittelgang des Großraumwagens. Er sah einen Betrunkenen, der im Schlaf rülpste. Er sah ein junges Paar, das erschrocken auseinanderfuhr, als Forster es anstarrte …
    Wer ist dieses Mädchen? dachte er immer wieder. Wo ist es geblieben? Was ist mit einem Menschen geschehen, der solch einen verzweifelten Blick hat?

II
    Nicht nur alle, die Mulanow kannten, sondern er selbst fragte sich manchmal, wann denn eigentlich auf dieser Mammutfahrt von zehn Tagen und Nächten der mit einem Händedruck des Abteilungsleiters ausgezeichnete Schaffner ein notwendiges Nickerchen hielt. Denn immer, wenn man ihn brauchte, war Mulanow zur Stelle; und er war auch gegenwärtig, wenn man ihn nicht brauchte.
    Schlaf kannte er anscheinend nicht, solange er mit seinem Transsib quer durch einen Kontinent rollte. Vielleicht kam das daher, daß er die Wagen drei bis sechs unter seiner Kontrolle hatte, die besten Wagen mit den wichtigsten Passagieren des ganzen Zuges.
    So stieß auch Werner Forster unausweichlich auf Mulanow, als er von seiner nächtlichen Suche in die zweite Klasse zurückkam und sich durch die Wagengänge tastete, die nur notdürftig erhellt waren.
    »Suchen Sie etwas, gospodin?« fragte Boris Fedorowitsch freundlich.
    Er hatte es sich bequem gemacht, trug keine Mütze, hatte den Schaffnerrock aufgeknöpft und das Hemd bis zum Gürtel offen.
    Die Wagen waren gut geheizt. Während draußen der Frost in den Bäumen knackte, rann einem hier der Schweiß über den Nacken.
    »Nein«, antwortete Forster müde. »Ich habe mich nur verlaufen. Plötzlich stand ich in der zweiten Klasse.«
    »Ein Problem, gospodin, ein wirkliches Problem, diese zweite Klasse.« Mulanow schloß die unteren Knöpfe der Jacke, um nicht ganz vor diesem hohen Staatsgast im Freien zu stehen.
    Wußte man denn, welche Funktion er hatte? Ein Deutscher, der in einem Abteil reist, das sonst nur hohen Funktionären und Generälen vorbehalten war, – das gibt zum Denken Anlaß!
    Vielleicht ist er ein in Westdeutschland bekannter Politiker, auch wenn auf der Meldung der Zentrale ›Ingenieur‹ steht. Viele wichtige Persönlichkeiten reisen heute inkognito.
    Man kann nie wissen …
    Ein gutes Wort über den Schaffner Mulanow an der richtigen Stelle, und eine neue Auszeichnung ist fällig!
    »Die Leute liegen da herum, stinken die Wagen voll, benehmen sich wie eine Hammelherde und haben bis zur Endstation hundertmal Streit miteinander. Man sollte diesen Zug nur mit der ersten Klasse fahren lassen, gospodin. Und einen
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