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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I
    »Glaub mir, Brüderchen, es ist ein Alptraum von einem Zug, ein wahrer Satanszug, aber ich bin stolz, darin der Schaffner zu sein!« sagte Boris Fedorowitsch Mulanow zu dem jungen Speisewagenkellner Fedja.
    Sie standen im Gang zwischen dem Speisewagen und einem Schlafwagen zweiter Klasse, rauchten miteinander eine Papyrossa, blickten hinaus auf die vorbeigleitende Landschaft und warteten auf die ersten Häuser von Gorkij.
    Es war ein eintöniges Bild: Birken- und Fichtenwälder, dazwischen riesige Flächen mit Feldern, in Furchen hingeduckte Dörfer, eine große Sowchose mit langen Geräteschuppen, Teiche und kleine Flußläufe.
    Über dem allem spannte sich ein bedeckter Vorfrühlingshimmel, aus dem es seit zwei Wochen ununterbrochen geregnet hatte. Es gab daher keine Wege mehr durch dieses Land, nur ein Geflecht aus Schlammstreifen, durch das sich die Fuhrwerke quälen mußten – wie seit tausend Jahren.
    Natürlich waren auch Straßen da, schöne, breite feste Straßen, blanke Bänder durch diese Einsamkeit; aber links und rechts von ihnen begann immer wieder das Land, das zweimal im Jahr in Schlamm und Morast ertrinkt, das ewige alte Rußland. Zweimal im Jahr: im Frühling und im Herbst, wenn der Regen entweder die Sommerglut oder die eisige Winterkälte ankündigt.
    »Du fährst nun schon oft«, fuhr Mulanow fort und blies den Rauch gegen die gewölbte Waggondecke, »die Strecke Moskau - Wladiwostok. Das ist schon etwas! Quer durch die halbe Welt! Auf der ganzen Welt gibt es keinen solchen Zug mehr. Trotzdem: Es ist ein Satanszug!«
    »Und warum, Boris Fedorowitsch?« Der junge Kellner Fedja trat seine Papyrossa aus. Im beinahe leeren Speisewagen langweilten sich drei Reisende, lasen Zeitung und tranken Tee. »Es ist der schönste Zug der ganzen Sowjetunion. Der Transsib! Ich bin rot vor Freude wie ein kleines Mädchen geworden, als ich damals hierher versetzt wurde.«
    »Der Zug ist schön. Aber die Menschen, Fedja, die Menschen!« Mulanow zeigte hinaus auf die ersten Häusergruppen von Gorkij. Die Wagen glitten weich und gut gefedert über Weichen; ein großer Verschiebebahnhof zog an ihnen vorbei.
    »Sieben Jahre fahre ich jetzt diese Strecke. Ohne Reklamation! Der Genosse Abteilungsleiter hat mir die Hand gedrückt und mich gelobt. Wem passiert so etwas, na?« Mulanow lehnte sich stolz gegen die Wand.
    Er war ein mittelgroßer stämmiger Mensch mit einem kleinen Schnauzbart und Stoppelhaar. Seine Eisenbahneruniform trug er wie ein General, und wenn er durch die Gänge ›seines Zuges‹ schritt und die Abteile inspizierte, war es, als nähme er eine Parade ab.
    »Weißt du, was das heißt?« Nun gab's kein Halten mehr, Mulanow war bei seinem Lieblingsthema angekommen. »Keine Reklamationen! Bei diesen Menschen in diesem Zug? Alles kleine Teufel, sage ich dir. Mehrere hundert Teufel auf zwei Schienen, und zehn Tage und zehn Nächte immer in deinem Nacken! ›Genosse Abteilungsleiter‹, habe ich geantwortet, als er mir die Hand drückte, ›ich habe meine Nerven im Stahlwerk von Kuybischew eingekauft. Beste dicke Drahtseile!‹ Und er hat gelacht, der Genosse Abteilungsleiter. Hat gelacht, daß sein Bauch wackelte und er sich fast verschluckte.«
    Mulanow kratzte sich den stoppeligen Kopf.
    »Ein Diplomat muß man sein, Fedja, und ein Psychologe, und man muß die Menschen erkennen – sofort! Mit dem ersten Blick, wenn sie bei dir einsteigen und sich in ihrem Abteil häuslich niederlassen, muß man sie erkennen. Man sieht's sofort, wie sie die Koffer behandeln, ihre Mäntel ausziehen, die Mitreisenden begrüßen, ihre Ehefrauen kommandieren, ihre Kinder anschnauzen, über den Zug meckern, die Fahrkarten hinhalten, wenn man sie kontrolliert … Die einen nicken einem freundlich zu, die andern sehen einen gar nicht dabei an, andere suchen und fluchen, manche ziehen sogar ihre Schuhe aus, als wenn sie dort die Billets untergebracht hätten, und wieder andere tun so, als solltest du sie am Hintern lecken! Und das zehn Tage und zehn Nächte lang … ich sage dir, Fedja, ein Betriebsausflug der Teufelchen aus der Hölle! Und trotzdem bin ich stolz darauf, hier Schaffner zu sein …«
    Vor dem Fenster sah man jetzt die Vorstädte von Gorkij.
    Zuerst sausten die alten Häuser aus der Zeit, als Gorkij noch Nischni Nowgorod hieß, vorbei, dann die Neubaublocks. Es waren Betonkästen wie überall auf der Welt, uniform, seelenlos; Wohnsilos, die unter einem trüben Himmel noch grauer und abstoßender wirkten als
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