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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Die anderen waren sanfter.«
    »Wieso die anderen? Sind noch mehr im Zug?«
    »Ich fahre diese Strecke dreimal im Jahr, Werner Antonowitsch.« Karsanow bediente sich noch einmal aus der Reiseflasche. »Es ist jedesmal eine andere.«
    »Aber immer ist eine Dirne im Zug?«
    »Was wollen Sie?« Karsanow hob resignierend die Schultern. »Man verbietet es; man bestraft sie, wenn sie angezeigt werden. Trotzdem fahren sie immer mit. Sie gehören fast schon zum Zugpersonal. Ich vermute, die Schaffner bekommen Prozente. Auch das ist ein Skandal! Aber beweise das mal einer! Doch dieses Luder werde ich anzeigen, das schwöre ich Ihnen! Alterchen, sagt sie zu mir. Ich bin vierzig Jahre alt. Ist man mit Vierzig ein Greis? Sehe ich aus wie eine vertrocknete Kartoffel? Ich bin tief getroffen, Werner Antonowitsch. Dieses Aas werde ich in Wladiwostok verhaften lassen!«
    »Warum denn erst in Wladiwostok, Pal Viktorowitsch?« fragte Forster.
    »Glauben Sie, ich will von anderen Reisenden zerrissen werden?« antwortete Karsanow schlicht. »Zehn Tage und zehn Nächte sind eine lange Zeit …«
    Irgendwo auf der Strecke hatten sie Verspätung. Warum, das wußte nicht einmal Mulanow.
    Zwischen Perm und Swerdlowsk hielten sie mitten im Ural in einer Felsschlucht, und als sie weiterfahren durften, war der Fahrplan so durcheinandergeraten, daß sie Swerdlowsk erst in der Nacht erreichten.
    Mulanow, der sich verpflichtet fühlte, seinen hochgestellten Gästen im Wagen fünf Erklärungen abzugeben, mutmaßte, daß einige Signale eingefroren waren. Man hatte tatsächlich Arbeitertrupps passiert, die, dick in Winterjacken vermummt, wie Gespenster links und rechts des Schienenstranges standen.
    Im Ural kam man wieder in den Winter. Das Land lag schlafend unter einer dichten Schneedecke. Hier gab es keinen Vorfrühling, hier herrschte im März noch tiefster Frost.
    Forster stand am Fenster, als sie endlich in Swerdlowsk einfuhren.
    Karsanow schlief auf seiner aufgeklappten Bank, die man in ein gutes Bett verwandeln konnte, und schnarchte.
    Vor der ersten gemeinsamen Nacht hatte er sich bereits vorbeugend entschuldigt: »Ich habe das Übel, zu schnarchen, Werner Antonowitsch. Wenn es Ihnen unangenehm wird, zwicken Sie mir ruhig in die Nase. Oder pfeifen Sie einen hellen langgezogenen Ton, das hilft! Meine Frau tut das auch immer. Warum ein Schnarcher dann aufhört, weiß ich nicht, aber Pfeifen hilft immer!«
    Forster pfiff weder, noch zwickte er in Karsanows Nase. Er gewöhnte sich schnell an das Schnarchen, und jetzt, in Swerdlowsk, war er sogar froh, daß Karsanow fest schlief.
    So war er mit seinen Gedanken allein. Allein mit den Worten seines Vaters; und er hörte ihn erzählen:
    »In Swerdlowsk haben wir auf dem Bahnhof den Wasserturm römisch zwo gebaut. Ob er noch steht? Wir haben nämlich in den Beton Salz und Zucker gemischt, weil es hieß, eines Tages mache das den Beton mürbe. Ob es stimmte? Wir haben damals alles geglaubt. Junge, war das ein Jahr in Swerdlowsk! Wir haben im Vergleich zu allen anderen Lagern wie die Maden im Speck gelebt. Diese Außenkommandos wurden von allen beneidet. Einige hatten sogar Weiber, Russinnen, die in Arbeitsbrigaden am Bahnbau arbeiteten. Aber die anderen Lager? Junge, da gab es Tage, da konnten die Grabkommandos nicht so viele Löcher in den vereisten Boden hacken, wie Tote herumlagen. Das war Swerdlowsk!«
    Der Bahnsteig war fast leer.
    Es stiegen nur ein paar Reisende in den Transsib, müde vom langen Warten, durchgefroren und den armen Mulanow beschimpfend, der an der Verspätung am wenigsten schuld war.
    Und dann sah Forster sie …
    Zunächst war es nur eine Gestalt im Schatten des längst geschlossenen Verkaufskiosks, so eng an die Wand gedrückt, daß das Licht der Bogenlampen auf dem Bahnsteig sie nicht erreichte.
    Erst als die Reisenden eingestiegen waren und die Stimme eines ebenfalls müden Beamten aus dem Lautsprecher das übliche »Türen schließen« verkündete, regte sich die einsame Gestalt.
    Forster erkannte ein schlankes Mädchen, den Kopf umwickelt mit einem ausgeblichenen Kopftuch, das bis zur Schulter reichte. Es trug einen langen gesteppten Rock und eine wattierte Jacke aus grauem Leinen.
    Das Mädchen hatte kein Gepäck bei sich. Es lief wieselschnell aus dem Schatten des Kiosks über den Bahnsteig zum Zug und sprang rasch in die noch geöffnete Tür eines Zweiter-Klasse-Wagens hinein.
    Im gleichen Augenblick rannte Mulanow am Zug entlang, stieß die offenen Türen zu und hob den
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