Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus
Autoren: Lars Brandt
Vom Netzwerk:
Die Rakete
    Leben in der Wand, oder was? Wühlt sich da etwa ein Tier durch die Mauer? Hinter der Tapete raschelt es um die beiden sinnlosen Nagellöcher herum. Jetzt zwischen den Steinen ein Rauschen. Man sieht so einer Wand ja nicht an, was sich in ihr eigentlich abspielt. Auf der anderen Seite steht Trixis Mann. Wie an jedem Morgen ist Walter als erster im Bad. Er besitzt die irritierende Angewohnheit, mit dem Wasserhahn so umzugehen, dass es überall klappert und jault, sie fragt sich, auf welche Weise er das anstellt. Wenn sie sich im Badezimmer aufhält, klebt der Spiegel geräuschlos auf den Kacheln.
    Falls sie mit Walter frühstücken will, muss sie jetzt langsam aufstehen. Beim Gang in die Küche hört sie ihn das Rasiermesser auf dem Streichriemen abziehen. Zu Hause in Südtirol ließen sich manche Bauern, die zum Markt in die Stadt kamen, vom Friseur rasieren, und der schärfte sein Messer auf dieselbe Weise, nur leiser. Stefta sagen die Leute im Gadertal zu Nägeln, oder agut , wenn es sich um lange Eisennägel handelt. So viel hat sie behalten. Und Löcher, wie heißen die auf Ladinisch? Sie weiß es nicht mehr. Die beiden hässlichen Punkte drüben in der Wand – sie schreibt Zahnpasta auf einen Zettel.
    Vor zwanzig Jahren, als Filmstudentin, fuhr sie ab und zu durch die Alpen heimwärts. Beim Blick aus dem Zugfenster ließ sie im Kopf die Kamera laufen und drehte einen Film im Stil der alten Wochenschauen – mit flackerndem Licht, der pathetischen Stimme des Kommentators, jagenden Streichern und blechernen Fanfaren. Schwarzweiße Bilder von Städten und Bergen, vom Treiben auf den Straßen, in den Orten, auf den Feldern und im Wald. Am Himmel türmten sich dramatisch die Wolken.
    Aus dem Badezimmer kommt ein Fluch.
    Sie blieb in München, als das Studium hinter ihr lag, kam dort wenig später in einer kleinen Filmproduktion unter, wo sie für alles zuständig war und vergeblich hoffte, endlich selbst einen Film machen zu können. Wie der auszusehen hätte, wusste sie: Definierte Bilder und Töne, die sich mit eigener Notwendigkeit zu einem neuen Ganzen zusammensetzen und eben dadurch etwas zeigen von der Wirklichkeit.
    Walter arbeitete zu jener Zeit noch als Ingenieur. Und die Filme, für die er sich besonders interessierte, liefen in Programmkinos. Die wenigen Zuschauer, die dort regelmäßig erschienen und sich ganze Reihen über das polnische Avantgardekino der sechziger Jahre oder den italienischen Neorealismus ansahen, kannten nach einiger Zeit die Gesichter der anderen. Aus der Tiefe des dunklen Kinosaals war manchmal ein Lachen aufgestiegen, an Stellen, wo außer ihr selber niemand lachte. Wenn später das Licht anging, sah sie irgendwo in einer hinteren Reihe lächelnde Augen unter rotem Stoppelhaar und einen hochgeschlagenen Jackettkragen. Einmal war nichts komisch gewesen, aber die geheime Verbindung brauchte diese Brücke nicht mehr, sie hatte seinen Suchscheinwerferblick aufgefangen, dann waren sie zusammen aus dem Kino gegangen und hatten in einer Bar gemerkt, wie sie sich von Minute zu Minute heftiger ineinander verliebten. Trixi hatte daraufhin eine Woche mit Fieber im Bett gelegen.
    Als sie wieder auf den Beinen war, sagte er, dass er nur in München bleiben könne, wenn sie als Paar zusammenlebten. Er wusste, was er wollte, und benötigte nicht viele Worte. Es war klar, was mit ihnen geschehen war. Also gaben sie ihre beiden Einzelwohnungen auf und suchten eine größere. Alles in Walters Wesen hatte deutliche Kontur, und ihr gab das ein sicheres Gefühl. Abends holte er sie oft von der Arbeit ab, sie aßen eine Pizza und gingen ins Kino. Auf dem Weg sprach er ab und zu einen Vers von Shakespeare vor sich hin, als wäre der eine englische Schlagerzeile, er konnte die Sonette auswendig.
    Ab und zu wurde Trixi von einem Thema so gepackt, dass sie sich über einen Film Gedanken machte. Aber man war weit davon entfernt, sie wirklich daran arbeiten zu lassen. Sie hatte Unterkünfte für Teams auf Reisen zu organisieren oder Drehpläne abzustimmen und höchstens die Vorstellungen anderer zu beurteilen, über die diskutiert wurde. Während sie sich also mit ihren Ideen fürs Filmemachen erst richtig beschäftigte, wenn sie die Firma verlassen hatte, ließ Walter alles, was ihn beruflich beschäftigte, konsequent im Büro zurück und trat aus dem einen in den anderen Flügel seiner Existenz. Das Rauschen der Isar drang zu ihnen hoch, wenn er spät das Schlafzimmerfenster öffnete.
    In einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher