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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus
Autoren: Lars Brandt
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der Bürgerrechtsbewegung zu skizzieren – mit dem Ziel, wie Walter sagt, ihr vordergründig zu nützen und zugleich das Personal an der Spitze aus der geschützten Heimlichkeit heraus ins Licht ziviler Vielfalt zu holen. Mirko Zabel sieht zu ihm hinüber – eine neue Theorie? Und Edgar Maurer, findet Walter, soll sich ruhig daran die schiefen Zähne ausbeißen.

Bob
    Wie eine Mauer steht draußen vor dem Fenster dichter Nebel. Trixi ist nach dem Frühstück ins Bett zurückgekehrt. Das Stärkungspulver, von dem man selbst nach Auffassung des Herstellers allenfalls ab und zu eine Prise in Fruchtsaft verrührt zu sich nehmen soll, wird von ihr trocken aus dem Glas gelöffelt. Sie hat vor sich einen großen Band über den Maler Richard Lindner. Ihre braunen Augen, leicht umschattet im Zentrum des breiten blassen Gesichts auf Beute wartend, dieselben wie auf dem Kinderfoto in Walters Büro, sind Raubtiere. Mit all der Sinnlichkeit, die nur grausamen Geschöpfen eigen ist.
    Bob liegt schmatzend neben ihr und lässt sich die Wärme von den umweltunfreundlichen Glühbirnen auf den Leib strahlen. Zum Glück hat sie rechtzeitig einen größeren Vorrat davon angelegt. Unter der Stehlampe, zweimal hundert Watt, die sie an solchen Tagen schon morgens ans Bett heranzieht, ist Bobs Fell gar nicht so schwarz. Vermutlich haben da im Lauf der Geschichte einige rote Vorfahren mitgemischt. Der Katzengeschichte: Sie erzählt davon, dass die Katzen irgendwann aus eigenem Entschluss bei den Menschen einzogen und damit ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufschlugen. In grauer Vorzeit, angestiftet wahrscheinlich durch die Göttin Bastet. Damals haben Bobs Urahnen im Schatten der Pyramiden beschlossen, ihr Leben unter freiem Himmel gegen ein häuslicheres in menschlicher Gesellschaft einzutauschen. Freilich sind ein paar tausend Jahre nicht genug, die Empfindlichkeit von Katzenohren abzustumpfen gegen all das, was sich vor oder hinter der Tapete abspielt. Jedes noch so feine Knirschen des Deckels alarmiert Bob im entferntesten Winkel der Wohnung, wenn Trixi das Glas mit aller erdenklichen Vorsicht im Schutz der Bettdecke aufschraubt. Verborgen vorerst jener Satz horniger Krummdolche, mit denen er Trixi bei Bedarf im Vorübergehen heftig blutende Wunden verpassen kann, die (anders als die feinen Schnitte, die Walter sich zufügt, weil er das Messer elektrischen Apparaten vorzieht, wodurch er sich »besser ausrasiert« fühlt) mit der Zeit kleine weiße Narben hinterlassen. Trixi schüttet etwas von dem Pulver in die hohle Hand, wo sich Bobs Sandpapierzunge an die Arbeit macht: an die schwere, süße Fron des Genießens, die sich wie ein Kummer auf seine Züge legt, eine saure Pflicht, der man aber nicht ausweichen kann.
    Sie betrachtet das Bild, mit dem Richard Lindner die Tür zu seinem Werk aufgestoßen hat. In der Mitte die Rückansicht einer nahezu unbekleideten Frau. Rotblau gestreifte Strapse laufen über das Fleisch zu den violetten Strümpfen hinab. Ihr Korsett setzt sich aus vielen Farben, Formen und Mustern zusammen. Eine spektakuläre Schnürung, den ganzen Rücken hinauf bis zu den Schulterblättern, endet in einem maskenartigen Einsatz aus grün schillerndem Satin, aus dem zwei rote Knöpfe Trixi anfunkeln, fast so wie die Pupillen der riesigen roten Katze, der die Frau auf dem Bild ihre Hand entgegenstreckt. Erst als er die Fünfzig überschritten hatte, war Richard Lindner ganz bei dieser Konstellation und damit zugleich bei sich selbst angelangt. Das Bild heißt The Meeting , ein Amalgam aus Erotik und reiner Malerei, das in den abstrakten Baukasten der Farben und Formen greift, so wie für diese unwirkliche Korsage dort. Der Maler hat sich auf diesem Bild auch selbst dargestellt, als Knabe im Matrosenanzug, umringt vom Zirkus seines weiteren Lebens, Freunden, Traumgestalten und Frauen: Porträts von denen, die damals wichtig für ihn waren, und Visionen seiner erotischen Mythe. All das in einem Bild – Lindner hatte den Weg zum »Meeting« gefunden.
    Das ist der Stoff, aus dem ihr nächster Film werden muss. Und je mehr sie darüber nachdenkt, desto besser versteht sie, wie schwierig es werden wird. 1901 in Hamburg geboren und 77 Jahre später in New York gestorben, ist Lindner auf der Bühne des 20 . Jahrhunderts einsam geblieben – anders als alle anderen. Nach langem Weg unversehens eine strahlende Gestalt im Zentrum des Geschehens, aber dann schnell wieder am Rand, weil seine Kunst nirgendwo richtig
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