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Alles Zirkus

Alles Zirkus

Titel: Alles Zirkus
Autoren: Lars Brandt
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dazugehörte. Er hat sein Schicksal geformt, ohne Referenz an das, was andere um ihn herum malten, ob in New York oder Europa. Aus seiner Heimat verjagt, von keinem Land ganz für sich zu reklamieren und mit keiner einzelnen Zeitspanne vollständig zur Deckung zu bringen, vielmehr eins mit der Geschichte und mit den unzähligen Geschichten, aus denen sie zusammengesetzt ist. Seine Malerei gab ihm das Gefäß für all das in die Hand, und die Wärme der Liebe, die sie auszudrücken vermag, strahlt weiter.
    In welchem Alter man zur Entfaltung gelangt, ist egal. Glücklich, denkt sie, wer irgendwann zu sich selbst vorstößt. Sein Leben als Mann gab ihm die Chance dazu. Ebenso glücklich, wer den Ort erkennt, wo er sie ergreifen kann. Nicht in Berlin, München oder Paris, weder mit zwanzig noch mit dreißig oder vierzig, in New York erst gelang es ihm. Die Motive, die in Manhattans Straßen auf ihn warteten, verknüpfte er mit Erinnerungen, die er aus Deutschland nach Amerika hinübergebracht hatte – aus der Vorzeit direkt in die Zukunft. Seine Bilder, spürt Trixi, erweitern den Boden, auf dem sie selbst sich bewegt.
    Mit ernstem Ausdruck sieht Bob ins Leere, während er sich müht, das Pulver abzuschlecken, das an seinem grau geriffelten Gaumen klebt. Das Lindner-Buch fällt vom Bettrand und landet laut auf dem Boden. Trixi erschrickt, sie hat nicht bemerkt, dass sie schläft. Jetzt muss sie aufstehen, auch wenn der Kater es nicht wahrhaben will und mit demonstrativ zitternder Umständlichkeit vom Bett turnt.
    Walter wird erst am Abend zurückkommen. Hoffentlich besser aufgelegt. Aber wahrscheinlich all die doppelbödigen Einfälle des Tages mit sich tragend, die sich nicht abschütteln lassen wie Staub. Sein Kopf angefüllt mit Zynismus und Aufstellungen, die besagen, wieviel die Agentur für ihre Umsetzung in Rechnung zu stellen beabsichtigt. Netto und brutto. Sie versteht ganz gut, dass er das nicht aushält.

Grauen
    Das Haus ist leicht zu finden. Im Hof steht mit offenem Laderaum ein Lieferwagen. Er trägt die Aufschrift Kupka Fußbodenbeläge . Kupka, so heißt der Mann, mit dem sie gestern auf seine Annonce hin telefoniert hat. Er erwartet Trixi hinter einem verbrauchten kleinen Schreibtisch, dichtgereihte Ordner füllen die Fächer eines Hängeregals. Das Zimmer mit Küche und Bad liegt im ausgebauten Dachboden des rückwärtigen Anbaus – ob sie alleine einziehen wolle, fragt Kupka auf den Stufen. Sie brauche keine Wohnung, antwortet Trixi, sondern ein Büro, einen Platz zum Arbeiten. Tageslicht sei wichtig, ruhig habe es zu sein, sie muss bei der Arbeit nachdenken. Das kleine Apartment wirkt in seiner schlichten Nüchternheit freundlicher, als zu erwarten war nach allem, was sie in den letzten Wochen besichtigt hat. Frische Farbe strahlt von Wänden und Türen, und auf dem Fußboden liegt makelloses Parkett, auf dem man trotz harttönender Versiegelung keinen festen Boden unter den Füßen spürt.
    »Gerade ganz neu gemacht«, hebt Kupka an, »ist alles auf den letzten Stand gebracht, wie Sie sehen. Bislang hat hier meine Tochter gewohnt. Sie arbeitet inzwischen in Hamburg …«
    Trixi kürzt seinen Bericht ab, denn sie hat sich bereits entschlossen. Dass es sich nur um einige Monate handeln wird, solange die Arbeit an dem Film eben dauert, behält sie erst einmal für sich. Jetzt ist alles so sauber und unbenutzt, wie es nach ihrem Auszug natürlich nicht mehr sein kann. Schon lange ist jedem Film, den sie macht, eine eigene Wohnung gewidmet, die in ihrer Erinnerung dann für immer nach dem riecht, was sie dort zu leisten hatte.
    Einen Moment innehalten, denkt sie, wieder auf der Straße mit dem Mietvertrag in der Tasche. Den Weg zwischen der Wohnung und diesem Studio wird sie in Zukunft regelmäßig gehen. Er führt durch ein Viertel voller Gründerzeithäuser. Im warmen Licht der Herbstsonne leuchten die Mauern in allen Zuckergussfarben um die Wette, überfrachtet mit plumpen Scheußlichkeiten. Wem fällt die Ungeschlachtheit solcher Fassaden noch auf? Den Annoncen zufolge, die sie in den letzten Wochen durchgesehen hat, handelt es sich bei alledem, eigentlich bei der Hälfte aller Häuser dieser Stadt, um Jugendstil . Die Immobilienmakler nennen alles Jugendstil , was den Krieg überstanden hat. Später Errichtetes heißt bei ihnen Bauhaus .
    Im Gebüsch hinter dem schwarzlackierten Gitterzaun des Botanischen Gartens brummt eine Heckenschere. Wie lange ist sie nicht im Gewächshaus gewesen? Umso
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