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Meinen Sohn bekommt ihr nie

Titel: Meinen Sohn bekommt ihr nie
Autoren: Isabelle Neulinger
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Prolog
    Grenzposten von Taba
    Südisrael, Juni 2005

    Es ist vier Uhr morgens. Am Himmel über dem Sinai leuchten die ersten Farben des erwachenden Tages, eine Reihe rot schimmernder Schnüre, an denen zahllose blasse Sterne baumeln. Es stimmt, dass sich nur in der Wüste ein solcher Sternenhimmel offenbart. Wäre ich nicht auf der Flucht, würde ich hier anhalten, genau zwischen Meer und Bergen, und dieses Bild betrachten, das wirkt wie aus Tausendundeiner Nacht . Dieses gelobte Land, das mir so viel geschenkt hat und aus dem ich mich jetzt davonstehle wie eine Diebin. Aber ich habe keine Zeit, die Landschaft zu bewundern. Was ich in dieser heißen Sommernacht vorhabe, ist der reine Wahnsinn. Mit gutem Grund hat mir Moshe, der Schleuser, einige Kilometer zuvor das Steuer überlassen: Zu riskant, unser Vertrag endet hier.

    Als wir in Arad volltankten, bestand er darauf, dass ich eine Vierteltablette Valium nehme. Doch nichts kann die Angst mildern, die mir in allen Gliedern steckt. Kalter Schweiß lässt mich trotz der Hitze der Nacht frösteln. Mein Rücken klebt am Sitz meines kleinen Daihatsu, während sich die gewaltigen Scheinwerfer des Grenzpostens immer deutlicher abzeichnen.
    Moshe und ich haben den Übergang in Taba nicht zufällig ausgewählt. Es ist der einzige in ganz Israel, der dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr und rund um die Uhr geöffnet ist – außer an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, der wie ein Schalter das ganze geschäftige Leben im Land ausknipst. Es ist auch der meistgenutzte Posten. Am Wochenende, in den Ferien und während der jüdischen Feiertage passieren dort Dutzende Israelis die Grenze, um ihre freie Zeit an der ägyptischen Küste des Roten Meers zu verbringen, in kleinen, schäbigen Badeorten oder wild campierend mitten in der Wüste Sinai. Seit wir in Tel Aviv losgefahren sind, hat mir Moshe immer wieder eingetrichtert, was wir vorher bis ins Kleinste festgelegt haben: Wenn mir die Polizisten Fragen stellen, muss ich vor allem ruhig bleiben, ich bin ein working girl aus Tel Aviv, meine Freunde erwarten mich auf der anderen Seite, wir wollen tauchen gehen. Ganz einfach, nicht? Das Rote Meer ist ein Wasserparadies, beliebt bei Tauchern aus der ganzen Welt, und die ägyptischen Strände im Norden, abseits der großen Hotelanlagen und wenige Kilometer von der israelischen Grenze entfernt, sind naturbelassen und vom Massentourismus unberührt. Die Israelis lieben sie trotz der Warnungen, die die Regierung nach dem Attentat der al-Kaida auf das Hilton-Hotel in Taba ausrief, bei dem im Oktober 2004 vierunddreißig Menschen starben. In Israel gewöhnt man sich schnell daran, mit der Bedrohung zu leben.
    Heute Nacht gehöre ich also zu diesen zerstreuungsbedürftigen Urlaubern, und ich bin spät aufgebrochen, weil ich nicht von der Arbeit loskam. Während ich mich dem ersten Wächterhäuschen nähere, wiederhole ich im Stillen die Namen meiner angeblichen Freunde, die auf mich warten, und den des Badeorts, wo wir uns treffen.
    Im Morgengrauen ist der Übergang wie ausgestorben. Mein Auto ist das einzige auf dem großen Parkplatz. Der Gedanke an die unmittelbar bevorstehende Begegnung mit den Grenzpolizisten lähmt mich. Aber es ist zu spät, um umzukehren. In dieser Nacht fliehe ich mit Noam aus Israel, ich fliehe vor einem Mann, den ich einmal geliebt habe und den ich nun nicht wiedererkenne, ich fliehe aus einem Leben, das er mir aufgezwungen hat und das mit den Vorstellungen einer freien Frau nichts zu tun hat. Heute Nacht entscheidet sich alles, halbe Sachen gibt es nicht. Hinter Taba ist Ägypten, die Freiheit. Oder das Gefängnis. Fünfzehn Jahre mindestens. Und Noam, mein Sohn, mein Ein und Alles, das Kind, für das ich diese Reise unternehme, wird mir für immer genommen. Noam, der hinten zwischen der Taucherausrüstung schläft. Ich weiß, der Schleuser hat mich gewarnt: «Dreh dich auf keinen Fall um, schau immer schön nach vorne!» Aber als ich das Auto abstelle und mich gegenüber den Zollbeamten, die mich von weitem beobachten, entspannt gebe, indem ich mich strecke, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel, und das, was ich sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Im Schlaf hat sich das Baby bewegt, und hinten im Wagen schauen unverkennbar ein Händchen und ein Füßchen zwischen Flossen und Schnorcheln hervor.

Teil eins Mein gelobtes
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