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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat
Autoren: Julien Green
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Erster Teil

I
     
    Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof.
    So hieß bei den Mesurais eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, daß sie die ganze Wand bedeckten. Sie zeigten sieben Mesurais, drei Serres und zwei Lécuyers, Mitglieder von Familien, die mit den Mesurais verschwägert waren, alle tot. Mit Ausnahme eines Gemäldes, über das wir noch sprechen werden, handelte es sich um Photographien, wie man sie vor fünfundzwanzig Jahren machte, schonungslos und getreu, auf denen das Gesicht vor einem weißen Hintergrund steht, ohne daß ein nachsichtiger Schatten seine Mängel abschwächen würde, und wo allein die Wahrheit ihre unerbittliche Sprache führt.
    Es war leicht, die Mesurais von den Serres und den Lécuyers zu unterscheiden. Wegen ihrer niedrigen Stirn, den markanten Zügen, etwas Entschlossenem in ihrem Gesicht, pflegte man zu sagen, sie sähen aus wie Herrscher. Alle, Männer und Frauen, hatten jenen beinahe aggressiven Blick, aus dem ein gutes Gewissen spricht. »Und Ihr«, schienen sie zu sagen, »wißt Ihr, was ein ruhiges Herz ist, ein Herz, das niemals heftiger pocht, das weder Angst noch Erregung kennt, sondern seine Freude zügelt und seinen Schmerz mit Gelassenheit annimmt, weil es sich nichts vorzuwerfen hat?« Junge und Alte waren darunter. Das Mädchen, dessen Kopf ein Schleier umrahmte, mußte wohl vor seinem dreißigsten Jahr gestorben sein, als Nonne in einem tätigen Orden. Es hatte hagere Wangen und ein kantig geformtes Kinn wie jener Greis dort im Frack, und diese Frau war bestimmt seine Mutter, mit ihrem geizigen Mund und ihren wachsamen Augen, die zu zählen schienen.
    Ganz im Gegensatz zu den Mesurais, die man unmöglich mit einer fremden Familie verwechseln konnte, unterschieden sich die Serres und die Lécuyers gar nicht voneinander, sie sahen sich sogar ähnlich, obwohl sie nicht dieselbe Abstammung hatten.
    Unwillkürlich stellte man sich vor, sie wären fast wie Pflanzen entstanden, aufgewachsen und vergangen, in ihr Leben ebenso ergeben wie in den Tod, und nichts schimmerte in ihren Augen als jene zerstreute, unbeständige und gutmütige Seele, wie man sie hin und wieder in der Menge bemerkt. Es war eine verbreitete Ansicht, daß allein ihr Reichtum die Verbindung mit den Mesurais erklärte, und die gleichen Leute, die diese mit Herrschern verglichen, sagten auch, sie hätten sich auf die Lécuyers und Serres gestürzt wie Falken auf Lämmer.
    Ob sie nun stark waren oder schwach, ob Mesurat, Serre oder Lécuyer, alle verblaßten sie doch neben der alten Antoinette Mesurat, die wie eine Königin sogar die stolzesten Mitglieder ihrer grimmigen Familie beherrschte, und ihr von sorgfältiger Hand gemaltes Porträt zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie mochte an die fünfzig Jahre alt sein, aber sie gehörte zu jenen Frauen, für die das Alter kaum von Bedeutung ist und die früh – so als habe die mit ihrem Werk zufriedene Natur beschlossen, nichts mehr daran zu verändern – das Gesicht bekommen, das sie ein Leben lang behalten. Die leicht ergrauten Haare waren straff nach hinten gekämmt und ließen die Rundung eines kleinen Schädels erkennen, in dem für Gedanken gewiß nicht viel Platz war, zumal die einmal hineingeratenen nur schwerlich neuen wichen, und beim Anblick der breiten, von keiner Falte durchzogenen Stirn drängte sich einem sogleich das Bild einer Mauer auf. Den schwarzen Augen fehlte der etwas einfältige Ausdruck der Serres und Lécuyers, die immer einen Punkt in weiter Ferne anzustarren schienen; es waren die weit geöffneten und kräftig gezeichneten Augen einer gesetzten Person, die genau hinsieht und das Hindernis abschätzt, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie trug eine schwarze Seidenkorsage, die sich eng einer mächtigen Brust und starken Schultern anschmiegte, und obwohl der Maler ihren schillernden Glanz mit offenkundigem Wohlgefallen wiedergegeben hatte, milderte das eitle Spiel des Künstlers keineswegs, was an diesem Körper mit seinen massigen Linien so energisch und streitbar wirkte.
    Adrienne verharrte ein paar Minuten regungslos vor den Porträts, die sie nacheinander mit leicht zur Seite geneigtem Kopf musterte. Sie seufzte.
    »Bist du da, Adrienne?« fragte eine Frauenstimme, die aus dem Nebenzimmer kam. »Was hast du?«
    Adrienne wischte gedankenverloren mit einem Lappen, den sie in der Hand hielt, über die Marmorfläche der
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