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Transsibirien Express

Transsibirien Express

Titel: Transsibirien Express
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zehn Genossen, darunter ein Opernsänger im Wagen drei. Er übt täglich vier Stunden, zwei am Vormittag, zwei am Nachmittag. Der General will ihn spätestens bis Irkutsk erschießen!«
    Auch hier nichts Besonderes. Karsanow winkte ab und ging zu seinem Abteil zurück.
    Forster tat, als ob er schliefe, aber er dachte immer noch an das unbekannte Mädchen. Es war unmöglich einzuschlafen, so wohltuend das leise Rattern der Räder auch war.
    Es war verrückt, aber er begann in Gedanken, das unbekannte Mädchen auszuziehen. Nicht in erotischer Absicht, sondern lediglich, um sich ein Bild von ihr zu machen. Wie würde sie ohne Kopftuch, Wattejacke und gestepptem langem Rock, ohne dicke Wollstrümpfe und derbe Bauernstiefel aussehen?
    Sie hat ein schmales, fast verhungertes Gesicht, dachte er. Das Größte darin sind ihre Augen … Sie muß einen zarten Körper haben, denn diese dicke Winterkleidung hing an ihr, als sei sie für jemand anderen gekauft worden. Von welcher Farbe mochte ihr Haar sein?
    Forster stellte sich die Fremde vor als ein junges Mädchen, das immer zu wenig zu essen bekommen hatte und das mit großen Augen in eine Welt blickt, von der es nur gesäuerten Kohl, gestampfte Kartoffeln, eine dicke Graupenkascha und an Feiertagen einen Quarktopf mit Gurken und roten Beeten kannte.
    Karsanow legte sich in sein Bett und streckte sich aus. Er räusperte sich mehrmals dabei in der Hoffnung, Forster würde darauf reagieren; aber als kein Laut von seinem Nachbarn kam, drehte er sich auf die Seite und schlief ein.
    Bei strahlender Sonne, die einen Goldhauch über die tief verschneiten Wälder legte und das Eisband der zugefrorenen Nitza glitzern ließ, als sei sie mit gewalztem Silber belegt, fuhren sie am nächsten Tag in den Bahnhof von Tjumen ein.
    Hier war Sibirien schon sichtbarer. Die auf dem Bahnsteig wartenden Menschen sahen in ihren dicken Pelzen wie aufrecht stehende riesige Füchse aus. Weiße Atemwolken schwebten über ihnen und schienen im Frost zu erstarren. Über dem Bahnsteig schob ein in Felle vermummter Mann einen Karren. Er verkaufte Milch, zu kleinen Blöcken gefroren.
    Auch Karsanow kaufte sich einen Block von 250 Gramm und stellte die Plastiktüte auf die Heizung.
    Drei Tage lang streifte Forster durch den Zug, ohne das Mädchen zu entdecken.
    Das Erlebnis dieser einzigartigen Bahnfahrt, die Erfüllung seines Jugendtraumes trat völlig hinter der Sorge zurück, was mit der Unbekannten geschehen sein mochte. Vor den Fenstern zog – in ihrer ganzen winterlichen Majestät – die Taiga vorüber; sie hielten in Omsk und Nowosibirsk, in Anshero-Sudschensky und Krasnojarsk …
    Namen, die sich verbanden mit der Grenzenlosigkeit eines Landes, das seit Jahrhunderten die Menschen verschluckte: Freiwillige und Deportierte, Kolonisatoren und Abenteurer, Händler und Kosaken, Techniker und Jäger.
    Von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht wurde Forster unruhiger.
    Er kannte jetzt bald jeden Winkel des Zuges mit Ausnahme der Packwagen und der Lokomotive.
    Wo konnte ein Mensch sich noch verstecken?
    Es gab kaum noch eine Möglichkeit, die Werner Forster nicht ausgekundschaftet hätte.
    Karsanow beobachtete diese Wanderungen mit Mißtrauen. »Was rennen Sie eigentlich immer herum, Werner Antonowitsch?« fragte er gegen Abend des dritten Tages. »Das hier ist ein Zug und keine Sportarena. Wenn Sie das Bedürfnis haben zu laufen, hätten Sie Sibirien zu Fuß durchqueren können!«
    »Und ich bewundere die Ruhe, mit der Sie hier herumsitzen«, antwortete Forster. »Es ist mir unmöglich, tagelang auf einem Fleck zu sitzen. Wenn ich keine Bewegung habe, roste ich ein. Sie, als Schreibtischmensch, kennen das natürlich nicht!«
    Es blieb nicht aus, daß Forster bei seinen Wanderungen mehrmals auf die rote Klaschka stieß. Sie machte gute Geschäfte, die Männer im Transsib waren mit offenen Taschen gesegnet. Langeweile begann sich auszubreiten, denn immer nur verschneiten Wald zu sehen, vereiste Flußläufe, tiefe Schluchten oder zum Weinen trostlose Sumpfgebiete, die jetzt im tiefen Schnee wie weißgedeckte Tische wirkten, auf denen die Büsche wie Krümel aussahen, – das hält auch ein patriotischer Russe nicht ohne Gähnen aus.
    Wohl dem, der dann eine Klaschka bezahlen kann! Ein halbes Stündchen für fünf Rubel, das ist ein vernünftiger Tarif für ehrliche Bemühungen.
    »Sie sind noch immer ein schöner Mann«, sagte Klaschka in der dritten Nacht zu Forster. Sie trafen sich im Gang von Wagen fünf, wo im
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