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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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starke Windbö erfasste mich und Regen peitschte in mein Gesicht. Ich setzte mich auf die nasse, kalte Treppe vor dem Haus. Hinter mir ging im Flur das Licht aus. Ein ausgehöhlter Kürbis glotzte mich an, hinter dessen gezacktem, breit grinsendem Mund eine Kerze flackerte. So saß ich da, ohne mich zu bewegen, starrte hinaus in die hundert Millionen Tonnen schwere Nacht, diese riesige Finsternis, in der nichts zu hören war als das harte Prasseln des Regens, das Rauschen des Sees.
    Vor meinen Blick schoben sich die Bilder des Morgens, an dem meine Mutter beerdigt worden war. Plötzlich hatte ein Mann in schwarzem Anzug und Krawatte vor mir gestanden und behauptet, er sei mein Vater. Und ich hatte ihm geglaubt. Denn er sah aus wie ich. Ich sah aus wie er. Und – er hatte den Brief bei sich, von dem Jo gesprochen hatte. Der Brief, in dem Mami ihm von mir erzählte und dass sie sterben würde. Sie hatte alles perfekt geplant. Sogar das Begräbnis war schon bezahlt. Das Begräbnis und die Klassenfahrt. Ihre ganzen Ersparnisse waren dafür draufgegangen …
    Ich schnappte nach Luft. Dachte, ich müsste ersticken vor lauter Erinnerungen. Jo hatte mit seinen Fragen die Vergangenheit aufgewühlt. Ich schob den linken Ärmel zurück und betrachtete die roten Linien.
    »Weißt du, was du deinem Körper damit antust?«, hörte ich die Stimme dieser Psychotante im Heim. Na ja, Psychozwerg war wohl der treffendere Ausdruck. Sie sah aus wie ein Playmobilmännchen, was vor allem an ihrem Make-up lag, das sie sich ins Gesicht schmierte nach dem Motto: Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Und so jemand behandelte mich, als sei ich auf dem geistigen Niveau eines Kindergartenkindes, sagte Sätze wie: »Du verletzt dich selbst. Du kannst eine Infektion bekommen. Die Wunden können sich entzünden. Die Narben werden nie wieder verschwinden.«
    Ehrlich gesagt fand ich das Ganze halb so schlimm. Wen störten schon die paar Kratzer auf meinen Armen? Richtig ätzend sah es hingegen in meinem Inneren aus. Aber so etwas sahen Erwachsene nie, nicht einmal diese Zwergin, dabei wäre es ihr Job gewesen.
    Mami … Erst seit sie tot war, nannte ich sie wieder so. Im letzten Jahr hatte ich nie Mami zu ihr gesagt. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich sie angesprochen habe. Vielleicht nur he … oder du? Bescheuert, oder? Jedenfalls höre ich manchmal nachts ihre Stimme, Mamis Stimme, ohne sie jedoch zu sehen.
    Mann, ich musste endlich aufhören, so viel nachzudenken. Ich zwang mich, die ganzen Bilder von mir wegzuschieben. Außerdem wurde mir langsam kalt, mein Hintern war nass von der feuchten Treppe und ich entschloss mich, zurück ins Haus zu gehen. Ich erhob mich, wandte mich um und – stieß gegen Jo. Wie ein Geist war er plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht. Oder hatte er die ganze Zeit über hier gestanden?
    »Gott, hast du mich erschreckt!«
    »Sorry, aber ich wohne hier!«
    Er hatte sich zum Ausgehen angezogen. Die Hand spielte mit den Autoschlüsseln.
    Meine Stimme zitterte leicht: »Fährst du weg?«
    »Brauchst du einen Babysitter oder was?« Er grinste.
    »Quatsch!«
    »Dann ist es ja gut.« Er ging die Stufen hinunter.
    »Wo gehst du hin?«
    »Ich hab was vor«, rief er, ohne sich umzublicken.
    Ich sah ihm nach, wie er das Auto aufschloss, einstieg und ohne ein weiteres Wort losfuhr. Dann verschluckte ihn die Nacht und ich blieb zurück – mutterseelenallein.
    Mann, war das still hier. Zu still. In der Plattenbau-Wohnung hatte man immer Geräusche gehört. Ständig klapperte der altersschwache Aufzug hoch und runter, Wohnungstüren schlugen zu, Nachbarn brüllten sich an, Kinder plärrten. Unten im Hof betranken sich Jugendliche; Flaschen schepperten, wenn sie aufeinander losgingen. Dazu kam das Gemurmel in den Abflüssen, Musik von unten, Getrippel von oben, der Wasserhahn tropfte, die Heizung summte, der Wecker tickte.
    Kurz: Jeden Pups konnte man hören. Und das war auch gut so! Schließlich konnte man sich sicher sein, dass jemand im Haus war – was man hier nicht gerade behaupten konnte. Ich war es einfach nicht gewohnt, alleine zu sein.
    Schnell verkroch ich mich im Wohnzimmer, kuschelte mich aufs Sofa und wollte mir die Decke über den Kopf ziehen, als erneut das Telefon klingelte.
    Als ich das Gespräch annahm, rauschte es ganz fürchterlich und jemand fragte: »Anna-Lena?«
    Die Stimme klang, als sei sie ganz weit weg.
    »Anna-Lena?«
    Ein Stich in meiner Brust. Die Stimme war mir so
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