Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
Vom Netzwerk:
Ich zitterte am ganzen Körper, Gänsehaut überzog Arme und Beine und meine Zähne schlugen laut aufeinander. Ich konnte nichts dagegen tun.
    Noch immer trieb der Wind Blätter und Regen ins Haus. Ich musste Türen und Fenster schließen, aber ich konnte mich nicht rühren. Wie angewurzelt stand ich im Flur und starrte durch die offene Tür hinaus in die Finsternis. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach davonzulaufen, hinaus in die Nacht. Einfach nur weg und zurück nach Hause.
    Nach Hause? Ein Zuhause gab es nicht mehr. Stattdessen lebte ich nun hier in diesem Monsterhaus.
    Wir sind jetzt deine Familie, Lena, hatte mein Vater gesagt, du bist jetzt meine Tochter.
    Wieder dachte ich, ich würde oben Schritte hören. Ich war halb wahnsinnig vor Angst. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Dann fiel mein Blick erneut auf das Messer. Ich würde jetzt nach oben gehen, egal, was dort auf mich wartete. Ich bückte mich, hob zögernd das Messer auf, hielt es fest umklammert.
    Angst ist nur Chemie, die verrückt spielt, sagte ich mir, und das Schlimmste ist die Angst vor der Angst. Ich zwang mich, ein paar Mal tief durchzuatmen. Mein Herz schlug gleichmäßiger, mein Atem wurde ruhiger. Und mit mir schien auch der Wind zur Ruhe zu kommen. Doch dieser Zustand dauerte nicht lange. Ich stand noch immer im Flur, als eine Stimme erklang.
    Wieder war sie es. Die Stimme meiner Mutter. Sie rief meinen Namen.
    Lena, hörte ich sie laut und deutlich, wenn du mich jetzt hörst, egal, wo du bist, dann musst du wissen, dass ich dich sehr, sehr lieb habe.
    Ich will das nicht hören, dachte ich, sei still. Aber ich schaffte es nicht, mir die Ohren zuzuhalten.
    Mein Herz schlug so heftig gegen meine Brust, dass ich das Gefühl hatte, die Haut darüber würde heiß, ja, sie brannte geradezu.
    Wie die Tränen in meinen Augen.
    Ich hatte nicht geweint, als Mami gestorben war. Ich war wie erstarrt gewesen. Doch nun konnte ich sie nicht zurückhalten.
    Wo kam nur diese Stimme her? War ich wirklich verrückt geworden? Aber ich konnte sie doch hören – es war Mamis Stimme!
    Ich habe dich belogen, was deinen Vater betrifft … Aber wir waren noch so jung.
    Nein, Lena, das kann nicht sein. Reiß dich zusammen …
    … ich habe ihn wirklich geliebt, aber er sollte nicht nur bei mir bleiben, weil ich schwanger war.
    Ich hielt den Atem an. Der Wind heulte draußen, es war, als wehte er Mamis Worte herein. Nein, die Stimme kam eindeutig aus dem oberen Stockwerk, oder?
    … er ahnte nichts von dir. Was ich gesagt habe, das mit der Abtreibung, es war gelogen.
    Ich schloss die Augen und hoffte einfach, es würde vorübergehen.
    Wie lange ich so im Flur stand, weiß ich nicht. Ich spürte nur, dass mein Körper völlig steif war vor Angst und vor Kälte. Und je länger ich so verharrte, desto absurder schien mir das Ganze. Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Traum.
    Langsam ging ich die Treppen hoch. Stufe für Stufe. Das Messer hielt ich dabei fest umschlossen in meiner Hand.
    Oben im Flur machte ich halt.
    Ich habe dir nicht erzählt, wie krank ich war, weil ich dich nicht belasten wollte …
    Die Stimme kam eindeutig aus meinem Zimmer.
    Meine Hand legte sich auf den Türgriff. Zögernd bewegte ich ihn nach unten. Die Tür öffnete sich langsam. Schwaches Licht war zu erkennen. Nun klang die Stimme lauter und ich registrierte, dass sie seltsam klang, irgendwie unnatürlich.
    Aber ich habe ihm geschrieben und kann nun sterben in der Gewissheit, dass er sich kümmern wird. Du hast jetzt eine richtige Familie, die dich lieben wird, Geschwister …
    Ich stieß die Tür endgültig auf.
    So seltsam, so verdammt strange.
    Ich spreche das auf Tonband, damit du meine Stimme nicht vergisst.
    Die Kisten mit den Sachen, die mein Vater aus unserer Wohnung geholt hatte, standen mitten im Raum und waren geöffnet. Wie von Ferne erkannte ich Dinge, Gegenstände, Kleidungsstücke, die zu meinem alten Leben gehört hatten. Der pinkfarbene Schal, den Mami gestrickt hatte. Ein Foto von Kim und mir. Und unzählige Kassetten, die wild durcheinanderlagen. Mami – sie hatte mir nie Zettel geschrieben, ihre Nachrichten immer auf Band gesprochen. Damit du meine Stimme hörst, wenn ich nicht da bin.
    Ich horchte, sprachlos, auf den Klang ihrer Stimme. Starrte, gelähmt, auf die kleinen Rädchen des Kassettenrekorders, wie sie sich drehten. Deshalb, dachte ich, gibt es keinen Abschiedsbrief an mich. Mami hatte mir ihre letzte Nachricht auf Band
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher