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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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war total gespenstisch. Als ob sich ein Alien in meinem Körper festgesetzt hatte, mein Herz in der Hand hielt und es ganz langsam, ganz fest, geradezu heimtückisch zwischen den Fingern zerquetschte.
    Meine erste Reaktion war Wut. Auf alles, auf alle: meine Mutter, die anderen, mich selbst, auf diesen Zombie in mir. Mann – ich hätte Amok laufen können. Und mal ehrlich: Besser ich ging mit dem Messer auf mich los als zum Beispiel auf Jana, meine neugierige Zimmernachbarin im Heim!
    Niemand bemerkte die Schnitte an meinem linken Arm, bis mich am Morgen der Beerdigung ausgerechnet Jana erwischte, als ich mit einer Nagelschere Totenkreuze in meinen Unterarm ritzte. Klar floss Blut. Was war so schlimm daran? Und überhaupt, hatte ich Kim geschrieben, warum pissen sich eigentlich alle so auf, schließlich sind die paar Kratzer nicht mit dem zu vergleichen, was Mami durchgemacht hat.
    Aber Jana, diese elende Verräterin, hatte mich sofort bei der Heimleiterin verpetzt. Die Folge waren die totale Kontrolle und Gespräche mit einer Psychologin. Diese furchtbare Frau war hinter meinen Geheimnissen her wie Conni hinter ihrem Wodka Gorbatschow. Aber ich schwieg eisern, während mein Vater versuchte, das Sorgerecht für mich zu bekommen. Das dauerte ewig. Das lag vermutlich an Stephanie, die das Ganze verzögerte. Ich musste schließlich einen Vertrag unterschreiben, den die Psychotante entworfen hatte, dass ich es nie wieder tun würde. Seitdem hatte ich mich im Griff, was in jedem Fall besser war, als ständig kontrolliert zu werden.
    »Ich hab dich was gefragt! Hörst du nicht zu?« Jo hatte bereits seine ganze Pizza gegessen, während meine noch vollständig vor mir lag.
    »Was?«
    »Ob schon jemand mit dir über den Schulwechsel gesprochen hat?«
    Hörte ich da einen triumphierenden Unterton in seiner Stimme?
    »Schulwechsel?«
    »Sie wollen, dass du auf Lauras Schule gehst.«
    Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Angstpickel nannte Kim sie. Unter einem Mikroskop würde ich aussehen wie ein Streuselkuchen.
    »Ich werde nicht auf eine andere Schule gehen.«
    »Wart’s nur ab.« Er machte eine kurze Pause. »Sie bringen dich schon so weit.«
    »Das werden wir ja sehen!«, erwiderte ich.
    Immer cool bleiben, wenn dir jemand zu nahe kommt. Genau das lernte man da, wo ich herkam.
    »Du behauptest, es würde dir nichts ausmachen, aber ich seh doch, was los ist. Da drinnen«, er deutete mit dem Messer auf meine Brust, »da zieht gerade ein Hurrikan auf.«
    »Lass mich einfach in Ruhe!«
    »Es ist keine Lösung, den Kopf in den Sand zu stecken: Augen zu, nichts sehen, nichts hören …«
    »Klugscheißer!«
    Jo war wirklich unberechenbar; gerade noch hatte er mich wegen meiner Ritzerei aufgezogen, dann wieder machte er einen auf verständnisvoll.
    Eine Weile sagte keiner von uns etwas.
    »Hast du eigentlich gewusst, dass du einen Vater hast?«
    »Na ja, es ist nicht so, dass ich dachte, ich wäre aus dem Ei gekrochen …«
    Er grinste.
    »… oder im Labor entstanden. Es war mir schon klar, dass ich einen biologischen Vater habe.« Ich riss ein Stück Pizza ab. Scheiß auf Messer und Gabel!
    Er lachte, was sich wider Erwarten nett anhörte. Zum Teufel, nie wusste ich, was er wirklich dachte.
    »Ich meine, ob man ihn kennt oder nicht, eines ist sicher: Jeder hat einen Vater, und wenn er nicht gestorben ist, lebt er irgendwo und dann stellt man ihn sich vor, wie er aussieht, wie er lebt …«
    Ich quatschte, als stünde ich unter Drogen.
    »Und wie hast du ihn dir vorgestellt?«
    »Single, Mietwohnung, Kühlschrank leer, überall Bierflaschen.«
    »Und jetzt bist du enttäuscht?«
    »Na ja, irgendwie war ich schon der Meinung, dass er nichts Besseres verdient hat. Sie – also – …«
    »Deine Mutter?«
    Ich nickte. »Sie hat gesagt, er habe damals auf einer Abtreibung bestanden.«
    Plötzlich fühlte ich mich etwas besser. Vielleicht war Jo doch ganz nett. Vielleicht war es gut, einen Bruder zu haben, mit dem man reden konnte. Und die Pizza schmeckte gar nicht mal so schlecht.
    »Weißt du, dass sie ihm geschrieben hat, kurz vor ihrem Tod?« Jo sah mich mit lauerndem Blick an.
    Wieder hörte ich das Blut in meinen Ohren rauschen. Warum nur hatte sie ihm geschrieben und nicht mir? Und warum musste Jo mich mit seinen Fragen so quälen?
    Ich brauchte frische Luft. Ich musste hier raus.
    Das Messer fiel mir aus der Hand, als ich aufsprang. Ich rannte in den Flur, riss die Haustür auf und stolperte hinaus ins Freie. Eine
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