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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Prolog
    D amals war es die Sensationsmeldung, die landesweit für Schlagzeilen sorgte. Jede Zeitung brachte sie auf der Titelseite. Ihr Gesicht war genauso bekannt wie das des Gouverneurs – und wesentlich beliebter. Der Elan in ihren blauen Augen, das einnehmende Lächeln, die Ausstrahlung – ja, genau das war es: Sie strahlte unverkennbar Lebensfreude aus, umgeben von einer Aura der Herzensgüte. Sie sah aus wie jedermanns Lieblingsschwester, die beste Freundin, das Mädchen von nebenan, alles in einem.
    Die Tatsache, dass sie schwanger war, als sie verschwand, verlieh der Geschichte einen zusätzlichen Gruseleffekt. Doch wenn man ihr Foto betrachtete, spürte man das Glück, das sie empfunden haben musste – so hautnah, als wäre man bei ihr. Man stellte sich vor, wie sehr sie sich auf das Kind freute, und wusste, dass sie eine gute Mutter sein würde. Manche Menschen verbargen ihre Gefühle, verschlossen sie tief in ihrem Inneren, so dass niemand sie zu entdecken vermochte – nicht so Mara. Sie hatte nie etwas zu verbergen gehabt. Man brauchte nur ihr Bild zu betrachten und wusste Bescheid – dieses Lächeln und das Leuchten in ihren Augen schlossen jeden Zweifel aus.
    Sie war wie ein offenes Buch, lächelte mit der gleichen Hingabe und Präsenz in die Kamera, die sie in alle Bereiche ihres Lebens einbrachte. Ich liebe dich – das spürst du doch, oder? Nimm das Bild, um diesen Moment festzuhalten, klebe es ins Babybuch als Beweis, wie sehr wir uns darauf freuten, dass unser Kind unterwegs war … Stammten diese Worte wirklich von Mara, oder waren sie die Ausgeburt einer überbordenden Phantasie?
    So offen zu sein erforderte eine gewisse Unschuld. Die Hoffnung – nein, mehr als Hoffnung: die Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort und die Menschen gut waren. Und nicht zu vergessen den Glauben, dass das Leben ein Geschenk war und der Lauf des Schicksals ausschließlich von einer positiven Macht bestimmt wurde. Natürlich geschahen schlimme Dinge – Übergriffe, Gewalt, Verbrechen –, bedauerlicherweise, ja. Aber sie ließen sich stets erklären und folglich irgendwann verstehen, so dass sie nicht wieder vorkommen mussten. Die Leute, die sie begangen hatten, waren in der Lage, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich grundlegend zu ändern.
    Das waren die Prinzipien, an die Mara glaubte. Oder vielmehr geglaubt hatte, bevor ihr Bild auf der Titelseite sämtlicher Tageszeitungen in Connecticut erschien. Sie war ein Einzelkind; ihre Eltern waren früh verstorben. Vielleicht hatte das ganze Land sie deshalb gleichsam adoptiert, nach ihr gesucht, um sie getrauert, als wäre sie die eigene Tochter, Schwester oder Freundin.
    Der Jahrestag ihres Verschwindens entfachte immer wieder aufs Neue eine Flut von Berichten. Fernsehsender brachten Wiederholungen alter Videoaufnahmen, Endlosschleifen, in denen sie lächelte, winkend mit ihrer gelben Gießkanne und dazu passenden butterblumengelben Gummistiefeln im Garten stand. Die Zeitungen druckten ihre Geschichte an jedem 21. Juni ab, dem längsten Tag des Jahres, an dem sich ihr Verschwinden jährte, um daran zu erinnern, was die ganze Nation vor langer Zeit in den Bann geschlagen hatte …
    Am ersten Abend des Sommers ging die strahlend schöne, genau einen Meter fünfzig große, hochschwangere Mara Jameson in den Garten, um die Pflanzen zu gießen. Ob sie per Anhalter das Weite suchte und ihre Identität wechselte, einem brutalen Frauenmörder in die Hände fiel oder zu diesem Zeitpunkt bereits von ihrem eigenen Ehemann umgebracht worden war, wurde nie aufgeklärt. Ihre Leiche wurde nie gefunden; sie tauchte nie wieder auf. Und das Kind wurde allem Anschein nach nie geboren – zumindest war Mara Jameson auf keiner Geburtsurkunde als Mutter eingetragen. Der einzige Anhaltspunkt waren die gelben Gummistiefel, die fein säuberlich neben dem tröpfelnden Gartenschlauch hinterlassen worden waren.
    Die Artikel waren schaurig und düster, aber auch eine Spur wehmutsvoll. Sie zogen einen Schlussstrich unter ein Leben, das nicht vollendet worden war – umgeben von einem Schleier des Geheimnisses, den man nicht zu lüften vermochte. Was könnte sie bewogen haben, den Wasserschlauch aus der Hand zu legen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden? Wer konnte dieses Lächeln jemals vergessen?
    Dieses Lächeln, das ihr Gesicht nie mehr erhellen würde …

Kapitel 1
    D er Ruhestand hatte seine Vorteile. Zum einen war es gut, sich zur Abwechslung einmal nach den
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