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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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wollen nie etwas von uns wissen. Und wie ist der Rest?«
    »Nett!«
    »Das ging ja schnell mit der Heiligen Familie …«
    Was war nur los? Kim war so verändert, klang einerseits gelangweilt, dann wieder spöttisch. »Sie adoptieren dich, hat dein Super-Daddy gesagt. Mit allem Drum und Dran! Fernseher im Zimmer, Laptop, iPod und dann noch einen kleinen Smart zum Achtzehnten. Du lebst jetzt auf der anderen Seite des Planeten, verstehst du! Ich bin ein Ghettokid und du bist zur Gucci-Fraktion übergewechselt.«
    »Red keinen Scheiß«, wollte ich sagen, und »Ich muss mit dir reden – über meinen Vater, über Mami, über die Klassenfahrt, über die Sache mit der Liebe« – aber dann fiel mir der Laptop im Zimmer ein und der Smart, mit dem Jo weggefahren war.
    »Kim …«
    Ich hörte Kim schmatzen. »Hmm?«
    »Gerade ist etwas Seltsames passiert.«
    »Was denn?«
    »Da war ein Anruf … und ich glaube … ich glaube, es war Mami«, brach es aus mir heraus.
    Schweigen am anderen Ende.
    Hatte Kim mich verstanden?
    »Lena, deine Mutter ist tot!«
    »Ich weiß, dass sie tot ist. Aber es war ihre Stimme! Sie hat meinen Namen gesagt! Es klang ganz echt! Kim, kannst du kommen? Ich brauche deine Hilfe!«
    »Mann, bis zu dir raus, das kann ich mir nicht leisten, das sind mindestens sechs Zonen …«
    Ein Knacken in der Leitung!
    »Hallo? Kim? Bist du noch dran?«
    Doch statt einer Antwort kam nur ein Rauschen.
    »Kim?«
    Meine Stimme drohte wegzukippen. Sie schien nur noch mit einer Faser an meinen Stimmbändern zu hängen.
War das Telefon tot?
    Hatte der Wind die Leitung zerstört?
    Oder hatte jemand die Leitung durchgeschnitten?
    Ich hatte das schon unzählige Male in Filmen oder im Fernsehen gesehen, aber nie geglaubt, dass so etwas im wirklichen Leben allzu oft vorkam.
    Nein, Kim hatte aufgelegt. So musste es sein!
    Ich starrte aus dem Fenster, wo der Wind den Regen in dicken schwarzen Linien über den Himmel trieb.
    Ich hatte lange nicht daran gedacht.
    Aber jetzt wollte ich das Messer spüren. Fühlen, wie es in die Haut eindrang.
    Nein, denk an etwas anderes, Lena!
    Die Stille im Haus – ich hatte das Gefühl, sie zu hören. Ist natürlich Schwachsinn, aber ja, sie knisterte. Absurde Gedanken jagten durch meinen Kopf. Ich wollte mich damit ablenken, glaube ich.
    Ist Weiß eine Farbe?
    Kann man Dunkelheit sehen?
    Kann man Wasser schmecken?
    Kann man Stille hören?
    Können Taube Stille hören?
    Wenn ich mir solche Fragen stellte, sagte Kim immer: »Mann, du hast vielleicht Probleme.«
    Kim hatte recht, oder?
    Aber ich ahnte: Von der Stille konnte man verrückt werden und offenbar war ich auf dem besten Weg dorthin. Doch es kam noch schlimmer: Nach der Ruhe vor dem Sturm wurde es nun laut. Ein Orchester von seltsamen Geräuschen begann so etwas wie eine Sinfonie. Na ja, eigentlich war es ein großes, beängstigendes Durcheinander seltsamer Geräusche, die aus den Wänden eines Geisterhauses zu kommen schienen. Ich glaubte, über mir Getrippel zu hören wie von Mäusen. Und dann ein Schleifen, als würde etwas über den Boden gezogen. Dann brach das Geräusch ab.
    Ich wartete. Mein Herz schlug schnell und laut.
    Bumm. Bumm. Bumm.
    Etwas rasselte.
    Ein dumpfer Schlag.
    Ich rannte von der Küche in den Flur – und blieb abrupt stehen.
    Die Haustür stand offen.
    Der Wind blies durch das Haus und trieb den Regen herein. Tote Blätter wirbelten über den Flur. Ich glaubte, den Wind sehen zu können. Er hatte die Farbe von Nebel. Leichenweiß. Der Boden lag voller Glasscherben.
    Die Bilder auf der Kommode waren umgekippt und eines hatte es heruntergeweht. Es lag mit der Vorderseite auf dem Boden. Ich wusste sofort, um welches Foto es sich handelte, bückte mich und drehte es um. Im nächsten Moment zuckte ich zusammen und spürte Blut die Hand hinunterlaufen. Die Glasscheibe war herausgesprungen, bis auf die Ecke, die links unten aus dem Goldrahmen ragte und an der ich mir den Daumen aufgeschlitzt hatte. Der Schnitt reichte bis zum Handgelenk. Doch ich spürte keinen Schmerz.
    Unter dem Foto lag ein Messer.
    Wer hatte Fenster und Türen geöffnet?
    Wer hatte das Messer hierher gelegt?
    Wer kannte mich so gut, dass er meine Gedanken lesen konnte?
    Kurz: Wer war im Haus?
    Auf dem Boden bildete sich ein roter Fleck. Ich begriff erst nicht, dass es mein Blut war, stellte mir vor, es käme aus den Ritzen des Parketts. Bald würde der ganze Flur voller Blut stehen, das aus meinem Körper floss. Meine Zähne schlugen aufeinander.
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