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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman
Autoren: Marc Levy
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»Wo beginnt die Morgendämmerung?«
    Ich war gerade mal zehn Jahre alt, als ich meine krankhafte Schüchternheit überwand, um diese Frage zu stellen. Der Naturkundelehrer drehte sich resigniert um, zuckte nur mit den Schultern und schrieb weiter die Hausaufgaben an die Tafel, so als existiere ich gar nicht. Ich senkte den Kopf, starrte auf meine Schulbank und tat so, als würde ich die grausamen und spöttischen Blicke meiner Klassenkameraden nicht bemerken, die, was diese Frage betraf, auch nicht mehr wussten als ich. Wo beginnt die Morgendämmerung? Wo endet der Tag? Warum erleuchten Millionen von Sternen das Himmelszelt, ohne dass wir die Welten, denen sie angehören, sehen können? Wie hat alles angefangen?
    In meiner Kindheit stand ich, wenn meine Eltern schliefen, nachts heimlich auf und schlich auf Zehenspitzen ans Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und betrachtete den Himmel.
    Ich heiße Adrianos, doch seit Langem schon nennt man mich Adrian, außer in dem Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde. Ich bin Astrophysiker, Spezialist für extrasolare Galaxien. Mein Büro liegt am Gower Court, innerhalb der Mauern der London University, Abteilung Astronomie; doch ich halte mich dort nur selten auf. Die Erde ist rund, der Raum ist gekrümmt, und will man die Geheimnisse des Universums ergründen, so muss man reisen, ständig auf dem Planeten unterwegs
sein auf der Suche nach den einsamsten Gefilden, den besten Beobachtungspunkten, der vollständigsten Dunkelheit, fern von den großen Städten. Ich glaube, das, was mich seit so vielen Jahren gedrängt hat, nicht wie die anderen zu leben - mit Haus, Frau und Kindern -, war die Hoffnung, eines Tages die Antwort auf die Frage zu finden, die immer schon meine Träume beschäftigt hat: Wo beginnt die Morgendämmerung?
    Wenn ich heute anfange, dieses Tagebuch zu schreiben, dann mit einer anderen Hoffnung: dass jemand eines Tages diese Seiten und den Mut findet, die Geschichte zu erzählen.
    Die tiefste Demut eines Wissenschaftlers besteht darin zu akzeptieren, dass nichts unmöglich ist. Heute weiß ich, wie weit ich damals von solcher Bescheidenheit entfernt war, bis zu jenem Abend, an dem ich Keira begegnete.
    Was ich in diesen letzten Monaten erlebt habe, lässt meine Kenntnisse lächerlich klein erscheinen und hat alles, was ich über die Entstehung der Welt zu wissen glaubte, auf den Kopf gestellt.

ERSTES HEFT

    Die Sonne erhob sich über dem östlichen Horn Afrikas. Die archäologische Ausgrabungsstätte im Tal des Omo-Flusses hätte schon in den ersten orangefarbenen Schimmer der aufgehenden Sonne getaucht sein müssen, doch dieser Morgen glich keinem anderen. Keira hockte auf einer kleinen Mauer aus getrockneten Lehmsteinen, die Hände zum Wärmen um ihren Kaffeebecher gelegt, und suchte mit den Augen den noch dunklen Horizont ab. Ein paar Regentropfen prallten von dem ausgedörrten Boden ab und wirbelten hier und dort Staubpartikel auf. Ein Junge kam auf sie zugelaufen.
    »Bist du schon auf?«, fragte Keira und strich ihm durchs Haar.
    Harry nickte.
    »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst in der Ausgrabungsstätte nicht rennen. Wenn du stolperst, könntest du mehrere Wochen Arbeit zerstören. Und was du dabei zerbrechen würdest, wäre unersetzlich. Siehst du diese Wege, die durch Schnüre abgegrenzt sind? Stell dir also vor, es wäre ein Porzellanladen unter freiem Himmel. Ich weiß, es ist nicht der ideale Spielplatz für einen Jungen deines Alters, aber ich kann dir nichts Besseres bieten.«
    »Es ist nicht mein Spielplatz, sondern deiner! Und außerdem hat dein Laden eher etwas von einem alten Friedhof.«
    Harry deutete mit dem Finger auf die sich nähernde Wolkenfront.
    »Was ist das?«, fragte der Junge.
    »Ich habe noch nie so einen Himmel gesehen, doch er verheißt nichts Gutes.«

    »Es wäre toll, wenn es regnen würde!«
    »Es wäre eine Katastrophe, willst du sagen. Hol schnell den Teamchef. Ich möchte das Terrain sichern.«
    Der Junge sprintete los und blieb dann unvermittelt stehen.
    »Diesmal hast du allen Grund zu rennen. Lauf!«, befahl sie und klatschte in die Hände.
    In der Ferne wurde der Himmel immer dunkler. Eine Böe riss ein Stück von der Plane weg, die einen Cairn schützte.
    »Das hat gerade noch gefehlt«, murmelte Keira und erhob sich von ihrer Mauer.
    Sie nahm den Pfad, der zum Lager führte, und traf unterwegs den Teamchef, der ihr entgegenkam.
    »Falls es regnet, müssen wir möglichst viele Parzellen abdecken.
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