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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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vertraut.
    »Ja«, flüsterte ich.
    »Anna-Lena?«
    In der Leitung rauschte es seltsam. Immer wieder dieses Knacken und dann: »Ich hab dich so lieb!«
    Wie viele Leute gab es, die diese Nummer kannten?
    »Ich hab dich so lieb!«
    Wer wusste, dass ich hier wohnte? Wer nannte mich als Einziger bei meinem vollen Namen?
    »Ich hab dich so lieb!«
    »Mami, bist du das?«
    Doch die Verbindung wurde erneut unterbrochen, dann war nur noch Tuten zu hören. Zitternd legte ich auf. Ich war wie erstarrt, konnte mich keinen Zentimeter mehr bewegen.
    War das eben wirklich ihre Stimme gewesen? Konnte doch sein, oder? Hatte ich je geglaubt, dass sie wirklich tot war?
    Immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis zurück, wie sie mich vor der Klassenfahrt verabschiedet hatte.
    »Du musst nicht mit zur Bahn kommen«, hatte ich gesagt und dabei nur einen Gedanken im Kopf: Dass ich mit IHM fünf Tage zusammen wäre. FÜNF TAGE! Tag und Nacht!
    Sie hatte mich so traurig angesehen. »Bist du sicher?«
    »Ich weiß gar nicht, warum du dich wie eine Glucke aufführst. Es sind doch nur fünf Tage.«
    »Ja, das ist nicht lange.«
    Ich hatte schnell weggeschaut, als ich die Tränen in ihren Augen bemerkte. Hatte es nicht verstanden, wollte es nicht verstehen, bin einfach gegangen. Habe mich nicht einmal mehr umgedreht, obwohl ich wusste, dass sie dort oben am Fenster stand und mir nachsah. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte.
    Was soll ich sagen?
    Ich hatte sie verraten.
    Und warum?
    Weil ich unbedingt auf diese Klassenfahrt mitwollte. Unbedingt! Mir doch egal, ob sie sich die Fahrt überhaupt leisten konnte. Mir doch egal, wie krank sie war.
    Mann, ich war verliebt! Total verknallt!
    Ich spürte, wie ich bei der Erinnerung daran erstarrte, wie ich immer schwerer wurde, dann gab der Boden unter meinen Füßen nach. Er wurde zu einer weichen, wabbeligen Masse. Wie die Wackelpuddings, die Kim tonnenweise in sich hineinschaufelte. Ich versank darin, schon waren meine Knie verschwunden, meine Hüften und bald steckte ich bis zum Hals darin, bald würde der grün geflieste Boden, der grüne Wackelpudding in meinen Mund hineinlaufen …
    Ich bekam keine Luft mehr, wagte nicht zu atmen. Im nächsten Moment rannte ich in die Küche und hustete, spuckte, kurz: Ich kotzte die Ananaspizza in die Spüle. Seltsamerweise war alles, was ich von mir gab, grün – giftgrün wie Wackelpudding.
    Ich wusch mir den Mund mit Wasser aus, säuberte das Spülbecken, wischte den grünen Wackelpuddingfußboden.
    Erschöpft griff ich nach dem Telefon und wählte Mamis Nummer. Es kam mir vor, als hätte ich zu schnell akzeptiert, dass sie tot sein sollte. Schließlich hatte ich sie nie tot gesehen. Warum war ich noch nicht auf die Idee gekommen, sie anzurufen?
    Ich lauschte, wartete ungeduldig auf das vertraute Tuten und begriff nur sehr langsam, dass die Stille sich nicht veränderte. Ich presste das Telefon fest ans Ohr.
    Nicht einmal ein Rauschen war zu hören, allenfalls ein Knistern … nein, auch das nicht. Ich stellte mir für einen Moment vor, wie das Handy in Mamis Sarg klingelte – ich war kurz davor abzudriften. Jo hatte recht: Ich war total durchgeknallt! Ich musste dringend mit jemandem reden, der mich zurück in die Wirklichkeit brachte.
    Kims Nummer tutete. Wir hatten uns seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Wohnten einfach zu weit entfernt voneinander und ich war nicht fähig zu reden. Über Mami, die Klassenfahrt und mein neues Leben. Ich schob einfach alles nach ganz nach hinten in meinem Kopf. Dahin, wo das Gehirn endet – kurz über dem Nacken, wenn da überhaupt noch Gehirnmasse ist. Ich kenne mich da nicht so aus. Wie auch. Da wo ich herkomme, wussten die meisten gerade mal so, dass im Kopf überhaupt so etwas wie ein Gehirn ist. Und das, meinte Kim, war schon für die meisten schwer zu begreifen.
    »Hi.«
    »Lena.«
    Ich dachte, Kim würde aufschreien vor Freude und Angst, stattdessen hörte ich ein Schmatzen.
    »Isst du gerade?«
    »Wackelpudding.«
    »Magst das Zeug immer noch, was?«
    Kim murmelte: »Wie geht’s dir denn so, in deiner neuen Familie?«
    »Es klappt ganz gut.«
    »Er hat einfach eure Wohnung ausgeräumt und deine Sachen abgeholt.«
    »Ich weiß.«
    »Total getunt, dein Alter.«
    »Er ist okay, wirklich.«
    »Was denn, geben sie dir Pillen zum Frühstück, dass du mehr Funktionen hast? Seit wann lieben wir Väter, die sich nie um uns gekümmert haben?«
    »Er wusste nichts von mir, ehrlich!«
    »Na klar, sie
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