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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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1

    Z wei Wochen vor Labor Day saß Raphael Semmes Cody mit seinem Cousin Junior in Roxie’s Ice Cream Palace. Sie schaufelten Mandelsplittereis mit Karamellsoße und gehackten Walnüssen in sich hinein. Draußen lastete die schwüle Luft, die sich über dem Golf von Mexiko mit Feuchtigkeit und über dem staubtrockenen Nordwestteil Floridas mit Hitze aufgeladen hatte, schwer auf der Kleinstadt Clayville. So gnadenlos heiter war der Himmel über Alabama, dass nicht die geringste Hoffnung auf einen kleinen Nachmittagsschauer bestand. Die Kunden, die in den Eispalast traten, zupften an ihren Hemden und Blusen, die ihnen vom Schweiß am Körper klebten.
    «Mein Gott, ist das
heiß
da draußen», seufzte ein Geschäftsmann im Leinenanzug, als er sich durch die Tür zwängte.
    Ein Farmer auf einem Hocker lachte. «Tja, heißer als ’n Kübel rote Ameisen.»
    Junior beachtete sie nicht. Er wandte sich an Raphael: «Ich hab ’ne tolle Idee. Lass uns sehen, ob wir das Chicobee-Monster finden.» Er meinte Alabamas Pendant zum Ungeheuer von Loch Ness in Schottland. Seit einem Jahrhundert hatten Hunderte Einwohner der Gegend angeblich etwas sehr Großes, Schlangenartiges und ziemlich Mysteriöses gesehen, das sich im tieferen Wasser des nahen Chicobee River versteckte.
    «Nee, das ist doch verrückt», erwiderte Raff – so nannten ihn alle. «Das haben sich die Leute doch nur ausgedacht. So etwas wie ein Chicobee-Monster gibt es überhaupt nicht.»
    Junior hatte mit dieser Antwort gerechnet. «Doch, klar. Jede Menge Leute haben es gesehen. Musst den Fluss in aller Ruhe runtertreiben, ohne Außenbordmotor oder so was. Mit einem Boot wie ein Treibholzstamm oder so ähnlich, weißt du.»
    «Ja, klar, wenn jede Menge Leute es gesehen haben, warum haben sie dann keine Bilder gemacht?»
    «Vielleicht hatten sie keine Kameras dabei. Die waren bloß zum Angeln draußen. Ich sag’s dir, wir nehmen ’ne Kamera mit. Ich hab eine. Wenn wir ein Bild hinkriegen, sind wir berühmt, wetten?»
    «Wie soll es überhaupt aussehen?», fragte Raff.
    «Fast wie ’ne richtige Schlange. Kringelt sich so rum. Keiner hat bisher den Kopf gesehen, immer bloß Teile vom Körper.»
    Raff schüttelte den Kopf. «Ich glaub’ das nicht. Meine Eltern ...»
    «Ach komm, sei kein Angsthase.» Junior verschränkte die Hände hinter dem Kopf und zog die Nase kraus. «Was können wir schon dabei verlieren? Wäre doch ein Riesenspaß. Auf dem Weg machen wir bei Frogman halt. Vielleicht zeigt er uns Old Ben. Hast du keine Lust, den größten Alligator der Welt zu sehen?»
    Raff schüttelte wieder den Kopf, diesmal energischer. «Jetzt
weiß
ich, dass du spinnst. Frogman bringt uns um, wenn wir seinen Grund betreten. Er soll schon oben im Lownes County ein paar Leute ermordet haben und gerade noch ungeschoren davongekommen sein. Wenn manseinem Anleger zu nahe kommt, sogar bloß einfach beim Angeln, dann kommt er angeblich raus und brüllt, gleich würde er einen erschießen.»
    «Ach, komm schon», antwortete Junior. «Old Frogman macht eine Menge Gedöns, aber er würde keiner Fliege was zuleide tun. Wäre doch echt interessant, wenn wir ihn mal besuchen könnten. Dann hätten wir was zu erzählen. Vielleicht würde er uns erlauben, Old Ben zu fotografieren. Das wär’ doch was, das rumzuzeigen.»
    «Ach ja? Angeblich verschwinden Leute auf dem Chicobee, und ihre Leichen werden nie gefunden.»
    «Und du meinst,
das
war Frogman? Nein, nie. Hätten sie bloß den geringsten Verdacht gegen ihn, dann wäre er doch schon unten auf der Polizeiwache von Clayville, und sie würden sein Grundstück umgraben und nach Leichen suchen.»
    «Okay, aber wer
war
es dann?»
    «Woher soll ich das wissen? Vielleicht das Chicobee-Monster. Vielleicht sind sie bloß über Bord gefallen und ertrunken. Ihre Leichen wurden bis zum Golf hinuntergetrieben. Oder es gab in Wirklichkeit überhaupt keine Vermissten. Vielleicht ist das alles bloß erfunden.»
    «Angeblich ist Frogman pervers.» Raff ließ nicht locker. «Er macht was mit kleinen Jungs, weißt du.»
    «Ja, was denn zum Beispiel?»
    «Weißt schon, er macht so verrücktes Zeug mit ihnen.»
    «Mein Gott, Raff, du bist echt widerlich.» Von seinen sechzehn Jahren herab – er war ein Jahr älter als Raff – beschloss Junior, seinen Cousin etwas erwachsener anzugehen. Er setzte eine empörte Miene auf und schüttelte langsam den Kopf, als staunte er über so viel Ignoranz.«Vielleicht hast du das irgendwo aufgeschnappt, aber wenn
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