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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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sich sowohl für Pflanzen als auch für Tiere interessierte, insbesondere für Insekten und Wirbellose, außerdem für den Nokobee Tract als Gesamtheit.
    Da Alicia und ich keine eigenen Kinder hatten, wurde Raff für uns ein Ersatzsohn. Zu unserer großen Freude ermunterten ihn seine Eltern, er solle uns Onkel Fred und Tante Alicia nennen, was in dieser Gegend der USA eine außergewöhnliche Geste von Freundschaft und Vertrauen ist. Von einem Sommer zum nächsten und mit jeder Zwischenphase, in der ich zum Unterrichten weit weg an der Florida State University war, konnte ich zusehen, wie sein Verstand sich weitete wie eine Blume, der man im Zeitraffer beim Aufblühen zusieht.
    Von Anfang an fiel mir an Raphael auch seine Andersartigkeit auf. Er hatte ein ruhiges Temperament, das für einen Jungen ungewöhnlich war. Dazu kam, dass er sich über lange Zeit hinweg aufmerksam auf ein einzelnes Thema konzentrieren konnte.
    Raphael betrachtete zunehmend den Nokobee Tract als Teil seiner Heimat, als seinen persönlichen Lebensraum. Bis zu seinem Schulabschluss war er zum Laienexperten von unzähligen Arten der ansässigen Fauna und Flora avanciert. Für sein Alter verfügte er über einenbemerkenswerten Erfahrungsschatz. Ich dachte mir, dass aus ihm bestimmt ein Wissenschaftler werden würde, und vielleicht sogar ein bahnbrechender.
    Aber Raphael Semmes Cody sollte, wie sich herausstellte, eine ganz andere Laufbahn einschlagen. Vielleicht werden Sie sagen, das Leben eines Menschen lässt sich eben nie voraussagen, noch nicht einmal das eigene. Und doch denke ich, dass Raphael auf dem Weg in ein erfülltes Leben auf hohem Niveau war, wenn nicht in der Naturwissenschaft, dann eben auf einem anderen Gebiet, dass er aber jedenfalls immer mit der Umwelt zu tun haben würde. Ich glaube, wenn ich all die Puzzleteile der verschiedenen Einflüsse auf ihn logischer zusammengesetzt hätte, hätte ich vielleicht richtig vorhersagen können, was aus ihm werden sollte und warum er dahin kam. Zugegeben, wahrscheinlich bilde ich mir das nur im Nachhinein ein. Was aber wirklich geschah, ist jedenfalls in mehrerlei Hinsicht wichtig, und es lohnt sich bestimmt, davon zu erzählen.

3

    E ines Tages, als Raphael Semmes Cody im College war und wir schon beinahe eine gemeinsame Basis auf Augenhöhe hatten, erzählte er mir eine Geschichte, die er «Das große Truthahnschießen» nannte. Raff erzählte es als harmlos amüsante Anekdote, passend für ein Tischgespräch in abendlicher Runde. Allerdings war da ein bittersüßer Unterton, und ich merkte, dass ihm das Ereignis sehr zugesetzt hatte. Auch später kam er gelegentlich noch darauf zu sprechen und ergänzte das eine oder andere Detail. Mit der Zeit wurde mir klar, dass die Begebenheit am Anfang einer Woche in seiner Kindheit stand, die seine Beziehung zu seiner Mutter und zu seinem Vater prägen und mithin den Fortgang seines gesamten Lebens beeinflussen sollte. Viel hat er mir erzählt, aber ich habe noch ein paar Lücken geschlossen – mit gutem Gewissen, so gut kannte ich Raff.
    Es begann an einem frühen Sonntagmorgen, als Ainesley in Begleitung von Raphael und dessen Cousin Lee jr. mit seinem kirschroten Pickup aus Clayville nördlich Richtung Jepson County fuhr. Die Jungen, Raphael und Lee Cody jr. – für die nahe Verwandtschaft Scooter und Junior –, waren damals zehn und elf. Junior war ein kräftiger Junge mitten in der Pubertät. Die ganze Fahrt über plapperte er aufgeregt von dem bevorstehenden Abenteuer und löcherte Ainesley mit Fragen über die Truthahnjagd. Raphael Cody dagegen war ein Strich in der Landschaft,klein für sein Alter und mager. Er bangte, was ihn wohl erwarten mochte, und saß in sich gekehrt da.
    In den ländlichen und kleinstädtischen Milieus dieser Gegend war und ist der erste Jagdausflug eines Jungen noch immer ein Initiationsritus. Keiner weiß, wann es damit anfing – wahrscheinlich in der Steinzeit. Die Emotionen, die da aufkommen, sind zu instinktiv und zu mächtig, zu eng verwoben mit der Gemeinschaft männlicher Erwachsener, als dass es anders sein könnte. Da gibt es Freudenschreie, wenn der Abschuss gelungen ist, da wird dem Schützen auf die Schulter geklopft, in den Arm geboxt, der Jägertrupp mit Gewehren und dem erlegten Tier wird fotografiert, ein Körperteil wird abgeschnitten und dem Schützen als Trophäe überreicht, und am Ende hüpft man abends um das Lagerfeuer und erzählt kriegerische Jagdgeschichten. Ich weiß, dass man das
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