Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Null

Null

Titel: Null
Autoren: Adam Fawer
Vom Netzwerk:
Kapitel // 1 //
    «Das macht zwanzig für Sie, Caine. Sind Sie dabei oder nicht?»
    David Caine hörte die Frage, konnte aber nicht antworten; seine Nase ließ ihn nicht. Der Gestank ähnelte nichts, was er je gerochen hatte – eine widerliche Brühe aus ranzigem Fleisch und faulen Eiern in einem Kübel voll Urin. Er hatte im Internet gelesen, dass sich schon Leute umgebracht hatten, weil der Gestank so unerträglich wurde. Er hatte das zunächst nicht geglaubt, aber nun   … nun kam es ihm gar nicht mehr so abwegig vor.
    Er wusste zwar, dass dieser Gestank nur das Nebenprodukt einiger verwirrter Nervenzellen war, aber das änderte nichts. Seinem Gehirn zufolge war der Gestank real. Realer als der Zigarettenqualm, der über dem Tisch hing. Realer als das fettige McDonald’s-Aroma, das von Walters nächtlichem Imbiss ausging. Realer als die Geruchsmischung aus Schweiß und Verzweiflung, die alles im Raum durchdrang.
    Der Gestank war so schlimm, dass Caine davon die Augen tränten. Doch so schlimm er auch war, verabscheuteCaine ihn doch nicht so sehr wie das, wofür er stand. Dieser Gestank bedeutete, dass gleich wieder einer kam, und der Heftigkeit nach zu urteilen – ein das Hirn benebelnder Fäulnisgestank, bei dem sich einem alles drehte und man nur noch kotzen wollte   –, stand ein mächtiger Schlag bevor. Und schlimmer noch: Er nahte schnell, und ausgerechnet jetzt konnte Caine sich das überhaupt nicht erlauben.
    Caine kniff kurz die Augen zusammen, ein fruchtloser Versuch, seinem Schicksal zu entrinnen. Dann hob er die Lider wieder und starrte auf die zerknüllte rotgelbe Pommestüte, die vor Walter lag. Sie pulsierte vor seinen Augen wie ein Herz aus Karton. Caine wandte sich ab, fürchtete plötzlich, sich übergeben zu müssen.
    «David, alles in Ordnung mit Ihnen?»
    Caine spürte eine warme Hand auf der Schulter. Es war Schwester Mary Straight, eine ehemalige Nonne, die eine uralte, übergroße Gebissprothese trug. Sie war die einzige Frau am Tisch – ja, die einzige Frau im ganzen Club, einmal abgesehen von den beiden ausgemergelten rumänischen Kellnerinnen, die Nikolaev engagiert hatte, damit niemand während des Spiels aufstehen musste. Die Schwester aber war die einzige Spielerin. Und obwohl alle sie «Schwester» nannten, war sie eher eine Art Ersatzmutter für die Männer, die hier im Keller lebten – oder dem
Podvaal
, wie die Russen dazu sagten.
    Streng genommen lebte niemand im Podvaal, aber Caine hätte gewettet, wenn er einen der etwa zwanzig anderen Männer an den Tischen hier gefragt hätte, wo sie sich am lebendigsten fühlten, hätten sie alle gesagt, hier, in dem beengten, fensterlosen Keller vier Meter unter dem East Village. Alle Stammgäste waren wie Caine. Spieler. Süchtige. Klar, manche hatten ein schickes Büro an derWallstreet oder einen bedeutsam klingenden Job in Midtown und Visitenkarten mit silbernen Prägebuchstaben, aber sie alle wussten, dass das überhaupt nicht zählte. Es zählte einzig und allein, welche Karten man bekam und ob man dabei war oder nicht.
    Allabendlich kamen sie wieder in das enge Kellergeschoss unter dem Chernobyl, dem kleinen russischen Nachtclub an der Avenue D.   Die Bar war schmutzig, aber die Spiele, die Vitaly Nikolaev betrieb, waren sauber. Als Caine Vitaly zum ersten Mal gesehen hatte, mit seinem blassen Gesicht und den mädchenhaft dünnen Armen, hätte Caine ihn eher für einen Buchhalter als für ein Mitglied der Russenmafia gehalten.
    Doch derlei Zweifel verschwanden an jenem Abend, an dem Vitaly Nikolaev Kleinholz aus Melvin Schuster machte, einem harmlosen alten Mann, der sich den falschen Club dazu ausgesucht hatte, beim Spiel zu betrügen. Ehe Caine wusste, was geschah, hatte Nikolaev dem schmerbäuchigen Großvater das Gesicht zu rotem Brei geschlagen. Anschließend wurde im Podvaal nie wieder betrogen oder geschummelt.
    Und dennoch war dies der Ort, an dem sich Caine noch am ehesten wie zu Hause fühlte. In seiner winzigen Einzimmerwohnung an der Upper West Side schlief er nur, duschte und rasierte sich gelegentlich. Ab und an nahm er ein Mädchen mit hinauf, aber das war nun schon lange nicht mehr vorgekommen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass die einzige Frau, mit der Caine irgendwelchen Umgang pflegte, Schwester Mary war.
    «David, alles in Ordnung mit Ihnen?» Schwester Marys Frage holte Caine zurück in die Welt der Lebenden. Er blinzelte und nickte der Schwester dann schnell zu, und das genügte, damit ihm wieder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher