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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
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gerade loswollte, wandte er sich um und versuchte noch einmal sein Glück.
    «Wir wissen schon, dass wir jetzt losmüssen, Sir, aber könnten Sie uns sagen – haben Sie jemals das Chicobee-Monster gesehen?»
    Frogman starrte die Jungen weiter an, aber Raff spürte, dass sich etwas fast Unmerkliches verändert hatte. Frogman fuhr einmal schnell mit der Zunge über den Mund, als setzte er zum Sprechen an. Er schob die Lippen ein wenig vor und stieß schließlich hervor: «Vielleicht ja, vielleicht nein.»
    Erneut hielt er inne, dann ließ er eine regelrechte Rede vom Stapel: «Ich habe da draußen was Großes gesehen, immer wenn’s grad dunkel wird, und gehört hab ich auch was. War bestimmt kein Alligator. ’N Stör auch nicht, der, groß wie ’n Mensch, aus’m Wasser gesprungenkommt. Vielleicht ein dicker, alter Bullenhai, der irgendwo aus dem Golf den Fluss raufkommt, lang wie ’n frisch geschlagener Baumstamm, aber das glaub ich nicht. So ’n Hai kommt nicht übers Wasser, die kommen unter Wasser ran.»
    Raff wusste, anders als Junior, dass Bullenhaie zu den wenigen Haiarten gehörten, die Flüsse hinaufschwammen, und zu den wenigen, die manchmal Menschen angriffen.
    Frogman schaute an den Jungen vorbei und schien mit sich selbst zu reden. «Aber ich hab was gesehen. Und was gehört.»
    Junior und Raff waren wie erstarrt. Sie warteten, ob Frogman weitersprechen würde, aber er war fertig. Sein Mund verzog sich, er kniff die Augen zusammen, und der Menschenfresser vom Chicobee war zurück.
    «Und jetzt, zum Teufel, runter von meinem Grund, und wenn ich einen von euch kleinen Rotzkerlen noch mal hier sehe, wird es euch leidtun wie noch nie was in eurem Leben.»
    Buckelnd und nickend murmelten sie «Yessir, yessir» und tappten rückwärts zum Anleger zurück. Schnell schoben sie das Boot ins Wasser, sprangen hinein und legten ab.
    Am Potomo Landing hievten sie das Boot auf den Lehmstreifen, stapften über das begraste Ufer und setzten sich neben dem Brückenpfeiler in den Schatten einer riesigen Virginia-Eiche. Raff öffnete seinen Rucksack und holte ein Picknick hervor, das seine Mutter für die beiden vorbereitet hatte: Weißbrotscheiben mit Erdnussbutter und Erdbeermarmelade, Äpfel und Hershey’s Mandel-Schokoriegel.
    Dann gingen Raff und Junior hinter dem kleinen Laden mit Tankstelle vorbei die einspurige, geteerte Potomo Road hinunter, die zwanzig Minuten später die alte Bahnstrecke nach Thomasville kreuzte. Sie wanderten südlich an den Gleisen entlang weiter, manchmal hüpften sie von einer hölzernen Schwelle zur nächsten, manchmal stapften sie durch das dichte Gras, das auf dem Bahndamm wuchs. Auf der Alabama 27 gelangten sie schließlich südöstlich wieder nach Clayville. Unterwegs vereinbarten sie, am nächsten Tag zu Johnsons Farm zu trampen und ihre Fahrräder zu holen. Dann schworen sie sich aus Angst vor drohendem Hausarrest heilige Eide, ihren Eltern niemals von ihrem Abenteuer zu erzählen.
    Erschöpft vom langen Weg, aber äußerst gut gelaunt waren sie rechtzeitig zum Essen bei Raff zu Hause, und Junior ging allein weiter. Am Küchentisch bei gebratenem Huhn, frittiertem Eibisch und Maisbrot fragte Raffs Mutter, ob sein Tag am Nokobee schön gewesen sei.
    «War in Ordnung», sagte Raff. «Aber ich wünschte, Junior würde sich mehr für Naturkunde interessieren. Außerdem hat er Angst vor Schlangen.»
    In allen Einzelheiten prahlten Raff und Junior in den nächsten Tagen bei ihren Freunden von ihrem Chicobee-Abenteuer, und beide bauschten dabei ihren eigenen heldenhaften Beitrag auf. Von einem gestohlenen statt einem geliehenen Boot war dabei freilich nur bei zwei oder drei ihrer engsten Vertrauten die Rede.

II

DER BÜRGER VOM NOKOBEE

2

    I n all den Jahren, die ich an der Florida State University verbrachte, bin ich nie einem Studenten begegnet, der der Natur treuer ergeben war als Raphael Semmes Cody. Als er als achtzehnjähriges Erstsemester ankam, war er schon ein erfahrener Naturforscher. Trotz unseres großen Altersunterschieds wurden wir rasch Freunde. Ich kannte Raff, wie er gewöhnlich genannt wurde, schon praktisch sein ganzes Leben. Wir waren uns in der unberührten Natur am Lake Nokobee begegnet, im tiefsten Süd-Alabama nahe der Nordwestgrenze Floridas. Dort gab es eine Welt, von deren schierer Existenz nur wenige wussten, und noch weniger konnten kundig davon erzählen; eine Welt, die wir teilten und liebten. Ich war der Wissenschaftler, der Chronist dieser
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