Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman
Autoren: E. O. Wilson
Vom Netzwerk:
Lebensräume, und Raff der Junge, der gewissermaßen dort groß geworden war. Seine enge Verbundenheit mit dem Nokobee Tract stellte den moralischen Kompass dar, der ihm sein ganzes bemerkenswertes Leben hindurch die Richtung angeben sollte. Ich war sein Mentor, wenngleich er in vielerlei Hinsicht den Nokobee weitaus besser kannte als ich oder irgendjemand sonst, und ganz bestimmt lag er ihm mehr am Herzen.
    Mein Name ist Frederick Norville. Ich bin Professor für Ökologie an der Florida State University, inzwischen freilich Emeritus. Dreißig Sommer lang reisten meineFrau Alicia und ich von Tallahassee in Florida in den Nokobee Tract, auf der Suche nach Entspannung und zu Forschungszwecken. Mein wissenschaftliches Interesse für die Gegend galt nicht dem See selbst, sondern dem alten Waldbestand der Sumpfkiefersavanne, die sich vom Seeufer eine Meile weit westlich bis an den William Ziebach National Forest erstreckte. Der Nokobee Tract war ein privates Reservat, eines der wenigen unberührten Gebiete, die in der Küstenebene des Golfs von Mexiko noch übrig waren.
    Dort also lernten wir Ainesley Cody und seine Frau Marcia kennen, die mit ihrem kleinen Sohn Raphael am Wochenende zum Picknick aus dem nahe gelegenen Clayville herüberkamen. Wann immer meine Arbeit und das Wetter es erlaubten, saßen wir auf Campingstühlen zusammen um einen Kartentisch und teilten unsere Sandwiches, Kartoffelchips und Moon Pies, dazu gab es kühles Bier. Mit der Zeit wurden wir so vertraut wie Verwandte.
    Bei diesen Gelegenheiten entwickelte Raphael, damals kaum mehr als ein Hosenmatz, eine Faszination für die Flora und Fauna des Nokobee Tracts. Er hatte keine Spielkameraden und konnte nicht fernsehen oder sich sonst wie sinnlos ablenken – richtiger wäre wohl zu sagen, er brauchte es nicht zu tun –, und so wandte er sich den Geheimnissen in der natürlichen Umgebung des Nokobee zu. Seine Eltern ließen ihn frei umherstreunen, und er durfte mir jedes Geschöpf bringen, das er einfangen konnte, um zu erfahren, worum es sich handelte. Sie schärften ihm ein, sich unbedingt vom Wasser und von Schlangen fernzuhalten. Damit waren die allermeisten Gefahren gebannt, die einem Kind dort drohen konnten.
    Unter den Schätzen, die Raphael sammelte, befanden sich mehrere Arten Salamander, auffällig gestreift, gepunktet oder geringelt; Chorfrösche, deren Balzruf klang, als würde man mit dem Fingernagel über die Zinken eines Kamms streifen; metallisch schimmernde blaue Kleinlibellen, die über das sonnenwarme seichte Wasser am Ufer schossen wie fliegende Edelsteine an einer Perlenschnur; und riesige Heuschrecken, die man daran gewöhnen konnte, dass sie einem auf der Hand sitzen blieben.
    Als Raphael in die Schule kam, zog er immer weiter hinaus auf dem Uferpfad des Nokobee Tracts, und das ohne jedes Anzeichen von Furcht. Er zeigte mir verschiedene Spinnenarten, kleine und harmlose, die er aus ihren Netzen zupfte und mir in der hohlen Hand brachte. Einmal kam er mit einer Nephila, einer Seidenspinne, die fast so groß war wie seine Hand und teils in das Netz eingewickelt war, aus dem er sie geholt hatte; ihre Beine wogten umher, ihre Giftklauen knirschten. Er hielt das Ungeheuer zwischen Daumen und Zeigefinger am Hinterkörper – er dachte sich, dass er die Giftklauen besser nicht seine Haut berühren ließ, so wie man seine Hand instinktiv vom Maul eines knurrenden Hundes fernhält. Ich sagte seinen Eltern nichts von diesem Vorfall. Vielleicht war das nicht in Ordnung, aber ich fürchtete, dass sie seine Expeditionen dann ganz verbieten würden. Stattdessen zeigte ich ihm, wie man Spinnen und Hundertfüßer in Gläser schieben konnte, ohne sie anzufassen.
    Ich genoss es sehr, Raphael etwas beizubringen. Er war ein guter Junge, und sein Wissen und seine Begeisterung wuchsen schnell. Dabei kann ich nicht sagen, dass er ein geborener Biologe war – wahrscheinlich gibt es die auch gar nicht. Ich jedenfalls war mit Sicherheit keiner. Abereine Gewissheit habe ich: Egal, was für Anlagen er mitbrachte, um Naturforscher zu werden, durch die wilde Umgebung am Lake Nokobee wurden sie jedenfalls reichlich gefördert. Alle Kinder haben ihre Käferphase, außer sie fürchten sich oder werden sonst wie von Erwachsenen gebremst. Ich ließ meine Käferphase irgendwann hinter mir und wurde Botaniker. Raphael ließ sie nie hinter sich. Er blieb dabei und weitete seine Interessen nur insoweit aus, dass er zu einer Art Allround-Naturforscher wurde, der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher