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Auf dem roten Teppich und fest auf der Erde

Auf dem roten Teppich und fest auf der Erde

Titel: Auf dem roten Teppich und fest auf der Erde
Autoren: Loki Schmidt
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Vorwort von Helmut Schmidt
    Bei uns zu Hause hängt ein kleines Foto an einer Wand, das aus dem Juni 1929 stammt, ein Kindergeburtstag: mein Bruder Wolfgang und ich, ein Nachbarssohn, zwei Schulkameraden – und Loki als einziges Mädchen. Wir gingen damals in die gleiche Sexta der Hamburger Lichtwarkschule, beide zehn Jahre alt. Es gab Kakao und Kuchen und danach eine große Schüssel voller Kirschen, die wir sechs Kinder um die Wette aufgegessen haben. Am Ende hat Loki gewonnen, denn sie hatte die meisten Kirschkerne auf ihrem Teller. Aber es gab ein Nachspiel, das mich für die nächsten achtzig Jahre geprägt hat.
    Loki hatte nämlich ihre Baskenmütze bei uns liegenlassen, und meine Mutter hat mir gesagt, ich solle ihr die Mütze nach Hause bringen. Das habe ich auch getan, zu Fuß etwa eine Dreiviertelstunde hin und wieder zurück. Aber die Ärmlichkeit der kleinen Zweizimmerwohnung im Hinterhof in der Baustraße, dunkel, doch voller Kinder und Erwachsener, hat bei mir einen Schock ausgelöst. Ich erinnere noch wie heute meine spontane Reaktion: Das ist ungerecht, es muss mehr Gerechtigkeit geben in der Welt! Ich habe damals das Schlagwort »soziale Gerechtigkeit« noch nicht gekannt, es ist mir erst später zugewachsen. Und im Laufe von Jahrzehnten hat sich dann dieser Begriff zunehmend mit klarem Inhalt gefüllt.
    Allerdings war der andere Teil des Nachspiels für mich nochwichtiger. Denn während der anschließenden sieben Jahre gemeinsamer Schulzeit hat sich zwischen Loki und mir eine zuverlässige Freundschaft entwickelt. Zu Beginn des Russlandkrieges wurde daraus eine tiefe Liebe – und ein Jahr später haben wir geheiratet. Seitdem sind wir nun schon neunundsechzig Jahre ein Ehepaar. Dass wir immer zusammengeblieben sind, ist entscheidend Lokis Verdienst. Die gemeinsame Erziehung zum selbständigen Arbeiten, zur Liebe zur Musik, zur Malerei und zur Natur hat gewiss auch dazu beigetragen.
    Lokis Eltern habe ich wohl mit vierzehn oder fünfzehn durch eine Reihe von Besuchen des Näheren kennengelernt. Mein späterer Schwiegervater Hermann Glaser war als Elektriker auf einer Werft bis in die Zeit der Kriegsrüstung über lange Jahre unfreiwillig arbeitslos, meine spätere Schwiegermutter Gertrud ging nähen. Es blieben immer sehr ärmliche Verhältnisse, erst recht nach der Ausbombung und nach dem Kriege in einer ehemaligen Gartenbude. Die Glasers konnten natürlich das Schulgeld für Loki nicht aufbringen, und deshalb sollte sie die Schule verlassen; ein vernünftiger Nazi-Schulleiter hat damals dafür gesorgt, dass ihre Eltern kein Schulgeld bezahlen mussten.
    Hermann Glaser war ein für die Arbeiter-Bildungsbewegung typischer Facharbeiter, ein Mann voller Wissensdurst und Neugier. Was er in Abendkursen auf der Volkshochschule lernte, hat er anderntags seiner ältesten Tochter beigebracht. Wenn er hätte studieren können, so wäre er wohl – ebenso wie mein eigener Vater und mein Bruder – ein guter Lehrer geworden. Er tendierte quasi selbstverständlich politisch nach links; natürlich war er, ebenso wie mein eigener Vater, gegen die Nazis. Unser beider Eltern haben Loki und mich davor bewahrt, ideologisch auf die Nazis hereinzufallen.
    Aus finanziellen Gründen konnte Loki nicht etwa Biologie oder Botanik studieren, was ihr Wunsch gewesen war; sie musste sich auf ein Studium mit dem Berufsziel der Lehrerin an Volks- und Realschulen beschränken. Und ich konnte mich nicht auf den erstrebten Architektenberuf vorbereiten, weil ich als Wehrpflichtiger ab 1937 acht Jahre lang Soldat wurde. So haben Nazizeit und Krieg all unsere jugendlichen Pläne zunichtegemacht.
    Nach dem Kriegsende im Mai 1945 war alles ganz anders. Alles war auf eine andere Weise ebenso schwierig, wie es schon in der Nazizeit gewesen war – mit einer entscheidenden Ausnahme: Die Ängste vor schwerer Verwundung, vor sowjetischer Gefangenschaft und vor der Gestapo waren verschwunden. Deshalb waren wir jetzt ganz unverzagt. Wir waren ja davongekommen, wir waren ja zu zweit, wir würden schon irgendwie durchkommen.
    Loki war schon seit 1940 Lehrerin und verdiente, wenn auch nicht viel. Ich dagegen begann, Volkswirtschaft zu studieren, weil dieses Fach den geringsten Zeitaufwand versprach. Erst 1949 – inzwischen gut dreißig Jahre alt – verdiente ich zum ersten Mal ein Gehalt. Es wurde auch Zeit, denn inzwischen hatten wir eine kleine Tochter und hofften auf ein weiteres Kind. Wir wohnten zwar mit drei anderen Familien in
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