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Totentaenze

Totentaenze

Titel: Totentaenze
Autoren: Beatrix Gurian , Krystyna Kuhn , Manuela Martini , Susanne Mischke
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Badezimmertür aufriss, waren meine Jeans. Und zwar genau dort, wo ich sie hingelegt hatte. Auf dem Wäschekorb und darauf die frische Unterwäsche. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mich anzog. Was war nur los mit mir? War ich total durchgeknallt? Hatte Mamis Tod mich doch mehr aus der Bahn geworfen, als ich mir bislang eingestehen wollte?
    Ich musste endlich aufhören, so viel über die Vergangenheit nachzudenken. Mein Leben fand nun hier statt, in diesem Haus, mit meiner neuen Familie. Tapfer schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an. Ich warf einen Blick in den Spiegel, klatschte kaltes Wasser in mein bleiches Gesicht und sagte mir: Nur nichts anmerken lassen, Lena. Reiß dich zusammen!
    Der Tisch war bereits gedeckt, als ich wenige Minuten später nach unten kam. Weingläser funkelten im Kerzenlicht und auf den Tellern lagen orangefarbene Servietten mit kitschigen Gespenstern drauf. Jo hatte sich mächtig ins Zeug gelegt.
    »Du auch?« Er präsentierte mir eine Flasche Rotwein. Unter dem Bund seiner Jeans schauten Boxershorts mit einem Totenkopfmuster hervor. Die Haare, wie bei Schweinsteiger eine Mischung aus Irokesenschnitt und Wasserstoffblond, ragten in die Luft.
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. Kim und ich hatten uns versprochen, die Finger vom Alkohol zu lassen. Nicht gerade cool, aber wir hatten schließlich jahrelang Connis Verfall miterleben müssen.
    »Cola?«
    Ich nickte.
    »Ananas oder Pilze?«
    »Was?«
    »Ananas oder Pilze?«
    »Ach so! Ananas!«
    Jo setzte sich, öffnete einen der Kartons, riss ein Stück von der Pizza ab und schob den zweiten Karton in meine Richtung: »Also, was ist, hast du keinen Hunger? Fang an!«
    Ich griff nach dem Messer, als Jo sagte: »Kein Blutbad bitte!«
    »Was?«
    »Ich hoffe, du richtest kein Blutbad an.«
    Jo beobachtete mich unter halb geschlossenen Lidern.
    Wie vom Donner gerührt saß ich da. Weshalb sagte Jo so etwas?
    Anscheinend wusste er Bescheid. Aber wer hatte es ihm erzählt?
    »Zeig doch mal die Narben!« Er fixierte meinen Unterarm.
    Das Blut rauschte mir in den Ohren – ich riss den Blick von Jo los und starrte ebenfalls auf meinen Arm. Der linke Ärmel des Pullovers war nach hinten gerutscht und das rote Linienmuster stach ins Auge. Aber es war vorbei – ich hatte es geschworen!
    »He, die Narben sind ja perfekt«, sagte Jo im Plauderton.
    Eine Sekunde herrschte Schweigen.
    Ich glaubte schon fast, ich hätte mich verhört, als er fortfuhr. »Damit hättest du heute Abend auf jeder Halloweenparty den ersten Preis gewinnen können.«
    Seine Stimme klang ungerührt und irgendwie – kalt? Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Irgendwie schaffte er es immer wieder, mich zu verunsichern. Als ob er etwas über mich wusste, wovon ich keinen blassen Schimmer hatte.
    Schnell zog ich den Bund meines Pullovers über die Narben und starrte auf die Pizza. Jo war so … Ich schaffte es einfach nicht, ihn zu durchschauen. Meistens behandelte er mich wie Laura – wie eine kleine Schwester eben und dann wieder wie einen Fremdkörper in diesem Haus, einen Störenfried …
    »Sie haben gesagt, wir sollen ganz normal mit dir umgehen und uns bloß nichts anmerken lassen«, bemerkte er.
    Der Wind draußen legte an Geschwindigkeit zu. Ich hörte die Wellen gegen das Ufer schlagen, Regen prasselte mit voller Wucht an die Scheiben der Küchenfenster. Auch in mir begann es langsam zu toben. Wütend hob ich den Kopf und schaute Jo direkt ins Gesicht, aber er hörte nicht auf.
    »Bei mir ist auch eine in der Klasse, die sich ritzt. Die nimmt aber kein Messer, sondern Rasierklingen. Gilette Kontur – Präzisionsklingen«, verkündete er. »Sie schwört sogar darauf – und wie ist das so bei dir?«
    Ich umklammerte das Messer und riss mich zusammen: »Kannst mir ja das nächste Mal Plastikbesteck herlegen, wenn du Schiss hast«, sagte ich mit ruhiger Stimme.
    Er lachte. »Warum machst du nur so eine Scheiße?«
    In dem Viertel, in dem ich aufgewachsen war, bauten ziemlich viele Leute ziemlich viel Scheiße – aus harmloseren Gründen als ich. Ehrlich, als ich mich an jenem Abend im Heim zum ersten Mal ritzte, weiß der Teufel, was da in mir vorging. Es war einfach eine Art geistiger Kurzschluss, der sich noch ein paar Mal wiederholte. Ich war, so nennt man das wohl, traumatisiert. Mann, meine Mutter war tot, ich hatte kein Zuhause mehr, womöglich musste ich Jahre im Heim verbringen.
    Ich vermisste Kim ganz schrecklich. Das Gefühl von Angst – echt, das
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