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Terroir

Terroir

Titel: Terroir
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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ins Innerste vor, indem man die Teile voneinander trennt, und gelangt, dank dieser Analyse, zu ihrer Verachtung.
    Dabei kann Analyse auch ganz anders sein. Es ist ein tolles Spiel, in einer verdeckten Probe Weine zu erkennen, Bodenformationen, Klimate, Winzer zu schmecken. Aber auch hier ist man dann ganz schnell wieder mit Situationen konfrontiert, in denen man glaubt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Wie soll denn das bitteschön möglich sein, im Wein die Unterschiede diverser vierhundert Millionen Jahre alter Sedimente eines tropischen Meeres zu schmecken? Mann und Frau kann. Probieren Sie es.
    Ob die Magie nun böse ist oder gut: Sie verstehen, sie auf eine logische Ebene herunterbrechen ist immer nur in Ansätzen möglich.Klar, wir können im Nachhinein reflektieren und herausbekommen, warum wir hier jemandem gerade wieder auf den Leim gegangen sind, welcher Archetyp in uns durch den Wein wachgekitzelt wurde, in welchen Seelenzustand wir uns durch den Wein haben bringen lassen oder wie sehr der Rausch unsere Rezeption von Realität verzerrt hat. Meinen wir. In Wirklichkeit bleibt auch dies zum größten Teil eine Illusion. Wenn, wie uns die moderne Hirnforschung aufzeigt, nur eine von hunderttausend Informationen, die unser Körper empfängt, dem bewussten Teil unseres Hirns zugänglich ist, kommen wir nicht umhin zu akzeptieren, dass wir es immer nur mit einem minimalen Ausschnitt von Wirklichkeit zu tun haben.
    „Put your faith in what you feel, and not in what you see“, heißt es in dem amerikanischen Volkslied vom Lemon Tree , dessen Blüten so wunderschön anzusehen sind und dessen Frucht so sauer schmeckt: „Very pretty and the flower is sweet, but the fruit of the poor lemon is impossible to eat.“
    Aber spinnen wir die Idee ruhig mal weiter. Selbst wenn es theoretisch möglich wäre, unser Hirn eine gute Weile lang rattern zu lassen, um alle Informationen einer Werbebotschaft oder eines Glases Wein in dem für unser Bewusstsein zugänglichen Rechenzentrum zu verarbeiten, dann wüssten wir vielleicht, wie die Werbebotschaft strukturiert ist und wie sich die Aromatik des Weins zusammensetzt. Aber wissen wir dann auch, ob die Werbebotschaft stimmt und ob der Wein echt ist?
    Die billige 80 er-Jahre-Beerenauslese aus dem Supermarkt für ein paar Mark fuffzig – da musste man nicht lange verkosten und konnte eigentlich davon ausgehen, dass jeder Verbraucher trotz behördlich abgesegneter Etiketten zumindest ein unbehagliches Gefühl bekommt. Und beim Eiswein im Discounterregal für vier Euro neunzigerst recht. Blöd nur, dass die Beerenauslesen gepanscht waren und der Eiswein weingesetzlich absolut in Ordnung ist. Und nun? Sollen wir kapitulieren?
    Einen spannenden neuen Denkansatz liefert uns die moderne Physik. Edward Witten ist Professor für mathematische Physik am renommierten amerikanischen Institute for Advanced Study in Princeton. Mehrfach wurde er für seine bedeutenden Beiträge zur Physik und Mathematik ausgezeichnet. Schon seit den 80 er-Jahren beschäftigt er sich so ganz faustisch mit dem, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, mit den Superstrings, den Urgebilden des Weltalls. Seine Arbeiten werden von vielen Physikern als derzeit wichtigste Beiträge für eine sogenannte vereinheitlichende Theorie angesehen, das heißt eine Theorie, welche die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie zusammenführt. Richtig kompliziert also und jenseits des Vorstellungsvermögens von Normalsterblichen. Das Interessante ist der Name dieser Theorie. Edward Witten hat sie die M-Theorie getauft. Und er sagt, der Buchstabe M stehe wahlweise für Magie, Matrix oder Mysterium? Und auch das Wort Mutter sei passend. Wahlweise. Welch provozierendes Wort für ein logisch-kausales Wissenschaftsverständnis! Aber was für ein neuer Grad von Freiheit! Wenn wir wollen, auch beim Wein. Wir akzeptieren, dass wir keine Theorie des Weins mit den Kriterien des bürgerlich-rationalistischen Wissenschaftsbegriffs beschreiben können. Wir nehmen uns die Freiheit zu wählen, welche Aspekte des Weins uns gerade wichtig und interessant erscheinen. Wir entscheiden, wo wir uns dem Wein hingeben wollen und wo wir uns kritisch distanziert annähern. Wir entscheiden, welche Erscheinungsform von Wein auch immer im Vordergrund erscheint: ob gute oder böse Magie, naturwissenschaftlich-logische Matrix, geheimnisvolles Mysterium, gebärend und verschlingend. Magie, Matrix, Mysterium, Mutter …

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