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Terroir

Terroir

Titel: Terroir
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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wesentlich besser auszudrücken, ob in der großen Weltgeschichte oder im individuellen Leben – mit Höhen und Tiefen, mit stetigen Veränderungen. Das Rad kann sich in verschiedene Richtungen drehen, kann in verschiedene Richtungen rollen und spiegelt das Erleben von Realität wesentlich treffender als der eindimensionale Pfeil. Gleiches erleben wir beim Wein.
    Beim Drehen des Weinrads begegnen wir Weinen, deren Geschmack scheinbar auf der Stelle tritt, und anderen, die sich scheinbar jeden Tag verändern. Wir verkosten Weine, die sich anhören wie die Wildecker Herzbuben, und solche mit dem Sound einer Maria Callas. Wir treffen Wein aus Amphoren, aus kleinen und großen Holzfässern und aus Edelstahltanks, aus bäuerlicher und industrieller Produktion, hergestellt von Menschen mit unterschiedlichen inneren Haltungen. Wir begegnen Weinen, die gut schmecken und mit Methoden hergestellt sind, die wir eigentlich ablehnen, und wir begegnen Weinen, die grausig schmecken, obwohl sie alle kulturellen und ökologischen Segnungen erfahren haben. Und wir begegnen Weinen, die uns verunsichern, bei denen wir überhaupt nicht wissen, woran wir sind. Weine, die uns mit dem Gefühl zurücklassen, eigentlich überhaupt keine Ahnung von Wein zu haben, noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen.
    Und dann wieder Weine, die einfach nur schmecken. Deren Aura so stark ist, dass jegliche Reflexion ausgeschaltet ist. Die uns in eine uns fremde Welt entführen.
    Beliebiger Essensbegleiter oder bewusster Genuss, globalisierte Regression in die Oralphase oder Emanzipation mit Grenzerfahrungen – wir haben die Wahl. Wir haben die Freiheit, den vielfältigen Aspekten dieses uralten Getränks Raum zu geben, uns von ihm einfangen zu lassen, uns verführen zu lassen.
    In der griechischen Mythologie ist Chronos, der Gott der Zeit, dafür verantwortlich, dass sich das Rad der Zeit immer weiter dreht. Manchmal, beim Wandern durch die Weinberge oder beim Genuss eines guten Glases Wein, betritt sein Gegenspieler Kairos die Bühne. Der große Magier der Zeitlosigkeit hält das Rad kurz an und füllt denAugenblick mit dem raum- und zeitlosen Gefühl unendlichen Glücks. Im flow . Mit einem tiefen Schmecken, Fühlen und Begreifen. Mit einer traumhaften Ahnung von Terroir. Die Polaritäten zwischen Schmecken und Geschmecktwerden, zwischen Mensch und Natur, aufgelöst in einer geheimnisvollen Verbindung.
    „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“, schrieb Friedrich Schlegel. „Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne als das bunte Gewimmel der alten Götter.“

E PILOG
    Nein, Dionysos, das geht auf gar keinen Fall. Wenn Terroir die Freiheit ist, sein eigenes System selbst zu gestalten, Hauptsache, es ist authentisch, ehrlich und transparent, dann kann ja jeder Industriewein auch ein Terroirwein sein. Dann macht seine antithetische Nutzung zum Begriff des Industrieweins doch gar keinen Sinn. Dann ist das alles doch nichts als eklektische Wortklauberei bis zum Abwinken.
    Beruhige dich, Apollon, großer Meister. Du bist doch sonst immer so vernünftig. Denk doch mal an den Gödel. Erinnerst du dich? Jedes System lässt sich mit seiner immanenten Logik schlagen. Das hast du ihm doch selbst ins Ohr geflüstert, oder?
    Nein, ja, doch, das stimmt, aber trotzdem. Warum dann die ganzen semantischen Taschenspielertricks? Chaos verbreiten, alle klaren Regeln negieren. Du bist schon wieder besoffen! Die Menschen brauchen Axiome. Terroirwein braucht klare Regeln, Essentials. Wir enden sonst in der Anarchie!
    Ach, Apollon. Du hast einfach kein Vertrauen in die Menschen.

L ITERATURHINWEISE
    Decimus Magnus Ausonius, Mosella. Das Mosellied des Ausonius. Mit einer Einführung in die Zeit und die Welt des Dichters. Übersetzt und erklärt von Walther John, 1932
    Ingeborg Bachmann, Musik und Dichtung, in: dies., Werke 4 , Piper, 1982
    O. Beck (Hrsg.), Der Weinbau an der Mosel und Saar, Selbstverlag der königlichen Regierung zu Trier, 1869
    Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, 1977
    Joachim-Ernst Berendt, Das dritte Ohr, Rowohlt, 1988
    Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma,
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