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Terroir

Terroir

Titel: Terroir
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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erste, kurze Zeitspanne mit einem Computer weglöscht, bleibt der dann entstandene Ton zwar als „rein“, aber eher langweilig ohne Bezug zum Instrument übrig. Auch die Verzerrungen der Musik durchdie Röhrentechnik bei einer analogen Aufnahme haben wir gelernt zu lieben. Wie viele Musikfreaks legen Schallplatten auf und verschmähen die CDs, vom Informationsverlust bei modernen Computerformaten ganz zu schweigen. Wenn die Rolling Stones auf MP 3 -Format heruntergesampelt wurden – es klingt zwar irgendwie immer noch nach Stones, aber …
    Es ist wie bei so vielen modernen Weinen, wie bei dem locker-flockigen fränkischen Frühlingswein Frank und Frei. Irgendwie schmeckt der immer noch nach Franken. Oder einer der vielen gut gemachten Kellereiweine aus Nierstein. Auch sie erzählen noch etwas vom Rotliegenden, dem über dreihundert Millionen Jahre alten Gesteinssediment am roten Hang.
    Aber was ist das gegen die Faszination eines Nackenheimer Rothenberg vom Weingut Gunderloch. Meist disharmonisch in seiner Jugend und noch voller schräger Akkorde, erklingt der Wein von Agnes und Friedrich Hasselbach nach einigen Jahren der Einstimmung wie ein großes Symphonieorchester, scheinbar jede Körperzelle geht in Resonanz, und die Geschmackspapillen schwingen mit ins Unendliche laufenden Ober- und Untertonreihen.
    Ein schöner Begriff aus den Sozialwissenschaften, der auch von Musikern sehr gern benutzt wird, lautet flow . Im-flow-Sein beschreibt sehr treffend die harmonischen Schwingungen beim Weingenuss und macht gleichzeitig aber auch das Prozesshafte, das Endliche deutlich. Im-flow-Sein heißt kommunizieren, mit wachem Geist und offenem Gefühl. So wie der Musiker über dem Sound seines Instruments mit dem Publikum verbunden ist, bedient sich der Winzer des Mediums Wein, um eine subtile Verbindung aufzubauen, „ein geheimes Band“, wie es die Musikerin Ann-Sophie Mutter einmal ausdrückte.
    Bach, Matthäuspassion : Der Schlusschor steht in c-Moll. Kurz vor dem Ende baut Bach hier ein H ein, eine provokative Dissonanz,die er erst nach einer Schrecksekunde in ein harmonisches C auflöst. Hat das der gute Johann Sebastian aus reiner Menschenliebe so gemacht? Wollte er das ein oder andere Schäflein aus seinem nach über vier Stunden andauerndem und nur durch eine gegebenenfalls dahinplätschernde Predigt unterbrochenem Chorgesang durchaus verständlichen frommen Kirchenschlaf aufwecken? Vielleicht. Viel wahrscheinlicher als treue Kirchgänger vor peinlichen Situationen zu bewahren, lag es aber an seiner Freunde und Lust am Komponieren, am tiefen Wissen über die Wirkungen seines Schaffens und am experimentellen Spiel mit der Disharmonie.
    Auch die Vinifikation von Terroirwein ringt immer mit der Frage, wie weit man als Winzer gehen kann. Wie viele unsaubere Akkorde dürfen das klare Klanggerüst auf feinen Gesteinsnoten und kristallin-blütenreinen Düften stören? Wilde, unberechenbare Botrytis: Sollen diese Trauben alle vorher aussortiert werden? Animalische Aromen der Gärhefen: Wie lange soll ein Wein unfiltriert und ungeschwefelt reifen? „The only question concerning two wines made by Heymann-Löwenstein and Clemens Busch, who have a fundamentalist view of the importance of terroir, resulting in a hands-off winemaking regime come hell or high water.“ So kritisiert höflich, aber vernichtend der renommierte australische Weinjournalist James Halliday nach einer großen internationalen Rieslingverkostung in Melbourne im August 2008 .
    Können wir lernen, Dissonanzen zu integrieren? Ja. Wie an anderer Stelle schon ausgeführt, ist gerade das der Weg aus der heilen fruchtig-hamonischen Kinderwelt in eine spannende Erwachsenwelt. Aber wie weit kann man gehen? Bei der Musik, so wird oft argumentiert, sei irgendwann mal Schluss. Viele zweifeln daran, dass unser Empfangsapparat so konstruiert ist, dass Stockhausen irgendwann einmal als „schön“ erlebt werden kann. Und beim Wein? Das enorme Geschmacksspektrum der Nahrungsmittel und Getränke auf der Erde legt die Vermutung nahe, das hier sehr viel mehr möglich ist.
    Ein höheres, oft provozierendes Maß an Komplexität beim Geschmack zu tolerieren und für sich zu integrieren, setzt allerdings die Bereitschaft zum Lernen voraus. Man muss schon viel Arbeit investieren, um den an der Oberfläche so unharmonischen Sound eines jungen Monprivato von Giuseppe Mascarello zu verstehen und die Größe eines solchen Weins zu begreifen. Der flow entsteht bei einem solchen
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