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Terroir

Terroir

Titel: Terroir
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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Wein erst mit der Zeit. Wein und Verkoster müssen sich ändern, müssen sich aufeinander einstimmen. Vielleicht stimmt ja die These, dass je mehr Arbeit aufgewendet werde, um ein Produkt zu begreifen, je mehr Gefühle generiert würden und je mehr Reflexion notwendig sei, desto tiefer werde das Verständnis, desto größer der Genuss.
    Wie in der Kunst entsteht der flow nicht, wenn sich der Winzer auszieht, wenn er dem Verkoster sein Seelenleben oder seine Launen überstülpt, wenn er sich prostituiert. Weine, die zu laut sind, Weine mit der Message „Schaut her, hier komme ich“, Weine, die die Welt mit Gewalt verbessern wollen – wer mag da in Resonanz gehen?
    Das Wort Kompromiss hat ja in unserer Kultur einen schlechten Klang, denn es klingt nach faulem Kompromiss. Aber jeder wahrhaftige Wein lebt von Kompromissen – zwischen ökologischem Anspruch, der Notwendigkeit zum Geldverdienen, humanen Arbeitsbedingungen, ästhetischem Rahmen, klimatischen Rahmenbedingungen, traditionellen Verpflichtungen, individueller Emanzipation und vielem anderem mehr.
    Ehrliche Weine haben einen guten Sound. Aber gibt es das wirklich? Gibt es einen Wein, der mehr ist als nur unsere Projektion? Einen Wein, der wirklich einen eigenen Sound hat, dessen Aura so stark ist, dass man das Gefühl hat, „von hinten angesprochen zu werden“, wie es Walter Benjamin formulierte? In Frankreich sagt man zu solchen Weinen: „Une bouteille qui chante.“
    In einer Sommernacht des Jahres 1954 wurden über der berühmten südfranzösischen Weinbaugemeinde Châteauneuf-du-Pape seltsame Himmelserscheinungen gesichtet. UFOs! Was hatten sie vor? Jacques Reynaud, Besitzer des exquisiten Château Rayas, bekam es mit der Angst zu tun. Wenn sie jetzt landen und die Weinberge zerstören? Nein, das durfte nicht sein. Als Bürgermeister und Mann der Tat trommelte er umgehend den Gemeinderat zusammen. Und der Beschluss war einstimmig: Unbekannten Flugobjekten ist das Landen in den Weinbergen von Châteauneuf-du-Pape verboten. Diese – wahre – Geschichte wurde von Randall Grahm, dem Enfant terrible der amerikanischen Weinszene in den 90 er-Jahren, aufgegriffen. Für seinen im ähnlich heißen Kalifornien aus den typischen Rebsorten der Rhône vinifizierten grandiosen Rotwein suchte er noch einen Namen. „Le Cigar Volant“ prangt seit dieser Zeit in einer feinen Serifenschrift auf der Flasche über dem traditionell gezeichneten Landschaftsbild, welches sich von traditionellen französischen Etiketten nur durch den Lichtkegel der fliegenden Untertasse unterscheidet. Darf man das? Ist das nun Nonsens und Kulturklau oder lustige Verfremdung und damit Kreation eines eigenständigen Produkts. Gar ein Terroirwein? Wie und aus welcher Perspektive bewerten wir die kulturellen Leistungen aus den USA? Ob sie so sind wie unsre? Ob sie unserer Vorstellung vom american way of life entsprechen?
    Wie viel Verfremdung vertragen wir? In der Küche von Ferran Adrià im El Bulli gibt es grünen Eidotter, hergestellt aus Erbsen, und Spaghetti, zu hundert Prozent bestehend aus Parmesankäse. Und ein Portwein aus Deutschland, von Hans-Jörg Rebholz aus Siebeldingen? Geiles Stöffje! Ein Cabernet Sauvignon vom den Knipsers aus Laumersheim? Schmeckt klasse! Kulturfrevel?

10
D ER WAHRE R EISENDE WEISS NICHT, WOHIN DIE R EISE GEHT
    Zhuangzi
    Es gibt kein schöneres Symbol für den Fortschrittsglauben der Industriegesellschaft als das Logo der Deutschen Bank, die quadratisch praktisch eingerahmte gerade Linie von links unten nach rechts oben. Links unten, so ist unser Unterbewusstsein gestrickt, liegt die Vergangenheit. Dort ist es dunkel, diese Ecke mögen wir nicht, sie ist negativ besetzt. Rechts oben dagegen strahlt die positive Zukunft im hellen Licht.
    Zumindest in den entwickelten Industrienationen beginnt der Pfeil zu zerbröseln. Immer mehr Menschen gehen auf Distanz zum blinden Fortschrittsglaubens der Apologeten von Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung. Denn trotz universitätsgescheiter Wohlfahrtsfunktionen und wortgewandter Wohlstand-für-alle-Sonntagsreden werden die Armen ärmer und die Reichen reicher. Die Entwicklung der Atomkraft hat die Welt in ein Pulverfass verwandelt, und mit ihren brutalen Eingriffen in das Ökosystem läuft die Menschheit Gefahr, ihre Lebensgrundlage zu zerstören. Die Ideologie der Industriegesellschaft mit dem impliziten Mehr-ist-besser führt sich immer mehr ad absurdum.
    Für viele vermag der Kreis das Gefühl von Entwicklung
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