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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel
Autoren: Leipert Sabine
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Die Stadt der Liebe
    Ich war gerade dabei, die letzten Karten von Kais neuem Autoquartett unter dem Sofa hervorzuholen, als ich Tims Blick im Nacken spürte. »Ich muss dir was sagen.« Schon krampfte sich alles in mir zusammen. Wie ich diesen Satz hasste. Er bedeutete nie etwas Gutes. Oder hatte schon jemals jemand so begonnen und dann hinterhergeschoben: »Du siehst heute verdammt gut aus, obwohl du einen Sechzehnstundentag hinter dir hast, von dem du die eine Hälfte im Auto und die andere damit verbracht hast, die Trümmer hinter unserem Chaos-Sohn in Grenzen zu halten«? Gab es irgendeine Situation, in der diesem Satz zwangsläufig und ganz automatisch eine positive Nachricht folgen musste? Wenn ja, auf jeden Fall nicht heute und nicht hier. Ich drehte mich nicht um, sondern sortierte weiter Kais Kartenspiel nach den Marken der Autos, weil ich ahnte, was Tim mir sagen musste. Seit er die Wohnung betreten hatte, hatte ich so ein Gefühl. Tim benahm sich irgendwie anders. Aber er sagte einfach nichts. Er stand nur da und starrte mir in den Nacken. Vielleicht musste er auch nichts mehr sagen, weil mit diesem einen Satz bereits alles gesagt war. Er kam gerade von einer zehntägigen Klassenfahrt aus Paris zurück. Die Stadt der Liebe, Rotwein, schicke Französinnen. Es war etwas passiert in Paris, und ich brauchte nicht viel Phantasie, um zu ahnen, was. Ich räusperte mich, weil ich Angst hatte, meine Stimme würde versagen. Dann fragte ich leise: »Mit wem?«, weil es komischerweise die einzige Frage war, die mir in den Sinn kam, obwohl ich inständig hoffte, dass es die falsche war. Aber als Tim darauf immer noch nichts sagte, wusste ich, dass ich richtig lag. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte nicht mehr erkennen, ob ich jetzt einen Mercedes oder einen BMW in der Hand hielt. »Mit meiner Kollegin. … Sarah«, erlöste er mich schließlich. Ich nickte und legte das Kartenspiel zur Seite. »Ich … ich habe dir von ihr erzählt, sie unterrichtet Französisch …« Was sicherlich hilfreich war, wenn man eine Klassenfahrt nach Frankreich machte. »… und Musik«, fügte Tim leise hinzu, als würde das die Sache besser machen.
    Jetzt drehte ich mich zu ihm um. Ich nickte immer noch, als ich ihn anschaute. Ich konnte nichts anderes tun, als ziemlich dämlich nicken. Dann ging ich wortlos an ihm vorbei zur Garderobe, nahm meine Jacke und öffnete die Wohnungstür.
    »Wollen wir nicht darüber reden?«, fragte Tim irritiert.
    Ich schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter mir zu.
    Am Ende dieses langen Tages war ich auch nervlich am Ende. Ich hatte Kai in den Kindergarten gebracht, war in die Redaktion gefahren, hatte ein anstrengendes Interview geführt und eine noch anstrengendere Pressekonferenz besucht, hatte Kai vom Kindergarten abgeholt und zu meiner Mutter gebracht, war wieder in die Redaktion gefahren, hatte meinen Artikel über die offensichtlichen Differenzen zwischen Kölns neuem Fußballtrainer und dem Vereinsmanagement geschrieben, Kai von meiner Mutter abgeholt, war mit ihm einkaufen gegangen und irgendwann viel zu spät nach Hause gekommen. Ich hatte aufgeräumt, Abendbrot gemacht, Kai vergeblich erklärt, dass er seinem Vater auch noch morgen früh sein neues Auto zeigen konnte, und mit ihm schließlich Karten gespielt, um ihn bei Laune zu halten. Ich hatte mich auf Tim gefreut, darauf, ein Glas Wein mit ihm zu trinken, und wer weiß, vielleicht hatte ich mich auch irgendwie auf Wiedersehensex gefreut, auch wenn wir beide vermutlich viel zu müde dazu gewesen wären. Ich wollte mit ihm die wenigen Minuten, die uns vom Abend noch übrig blieben, genießen. Aber ich wollte jetzt ganz bestimmt nicht mehr reden.

Im falschen Film
    Aus Reflex stieg ich in die Bahn, um zu Tina zu fahren. Weil ich immer zu Tina fuhr, wenn ich ein Problem hatte. Aber als ich schließlich vor ihrer Haustür stand, fiel mir auf, dass ich auch mit ihr nicht reden wollte. Ich wollte heute gar nicht mehr reden, nachdenken oder mich bemitleiden. Ich wollte einfach nur abschalten und entschied mich schließlich dafür, ins Kino zu gehen. Mit etwas Glück hatte die Spätvorstellung noch nicht begonnen.
    Ich war eigentlich nie viel ins Kino gegangen, und seit Kais Geburt hatte ich auch nicht mal mehr die Filme gesehen, die man unbedingt gesehen haben musste. Aber in diesem Moment erschien es mir wie eine gute Idee. Ich hatte keine Ahnung, was zur Zeit lief, als ich die im nüchternen Fabriklook gehaltene Vorhalle des
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