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Noch lange danach

Noch lange danach

Titel: Noch lange danach
Autoren: Gudrun Pausewang
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    Langsam, langsam – eine Frage nach der anderen! Was mit davor gemeint ist? Das weiß doch jeder: vor der Katastrophe! Und danach ist eben nach der Katastrophe.
    Meine Omi hat mal gesagt, wenn diese beiden Wörter davor und danach aus Metall wären, müssten sie jetzt vom vielen Gebrauch glänzen.
    Für uns besteht das ganze Leben aus Davor und Danach .
    Stimmt schon, das Davor kenne ich nur aus zweiter Hand. Denn es hat ja mit dem Reaktorunfall vor 41 Jahren aufgehört. Wir Jüngeren erfahren das Leben im Davor vor allem von unseren Großeltern und Urgroßeltern und anderen Alten, die die Katastrophe noch bewusst miterlebt haben. Ihr könnt mir glauben, wir alle haben diese Geschichte tausendmal erzählt bekommen! Mit erhobenem Zeigefinger!
    Mit solchen Berichten wurden wir zum Beispiel zu Respekt vor allem Essbaren erzogen. Jeder von uns hat sich das unzählige Male anhören müssen: dass davor nach jeder großen Pause auf dem Schulhof immer Reste von belegten Broten zu finden gewesen seien. Oder Obst. Oft noch gar nicht angebissen. Noch nicht mal ausgepackt. Einfach in den Müll geworfen! Der Hausmeister der Schule habe kaum Futter für seinen Hund kaufen müssen …
    Davor soll es hier auch viele Dicke gegeben haben. Sogar dicke Kinder!
    In meiner Klasse ist niemand übergewichtig.
    Euch interessiert mehr das Leben im Danach ? Das habe ich gründlich kennengelernt. Ich bin mittendrin. Zum Beispiel, wenn ich Mama, die meistens nicht aufstehen mag, die Steppdecke aufschüttle. Oder wenn ich fast eine halbe Stunde für den Weg von der Schule bis nach Hause brauche, weil es im Danach keine Schulbusse mehr gibt.
    Omi fuhr noch im Bus zur Schule.
    Unterwegs begegne ich nur sehr wenigen Autos. Hier in Deutschland kann sich fast keiner mehr ein Auto leisten. Von Omi weiß ich, dass früher fast jeder ein Auto hatte, manche Familien sogar zwei oder drei!
    Danach heißt auch vor allem eines: Krankheit. Dazu fällt mir Emma ein, Emma aus der 6b. Die hat keinen linken Arm. Nur ein paar Fingerchen an der linken Schulter. Ob sie diese schlimme Missbildung auch ohne die Reaktorkatastrophe hätte, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es im Danach , wie Omi sagt, viel mehr Missgebildete als im Davor . Das liegt an den Genen. Die sind bei vielen zu stark verstrahlt worden.
    Und wenn in meiner Klasse der Platz von Ronny oft leer bleibt, weil er an Schilddrüsenkrebs leidet, hat das auch mit dem Danach zu tun. Auch in Zukunft werde ich im Danach sein. Bis an mein Lebensende.

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    Die Reaktorkatastrophe hat uns von heute auf morgen arm gemacht. Ihr braucht euch ja nur umzuschauen, wie es hier aussieht. Die Straßen sind voller Schlaglöcher. Die Autobahnen können an manchen Stellen nicht mehr befahren werden, weil sie abgesackt oder halb weggeschwemmt sind oder tiefe Risse haben. Eine Brücke hier in der Nähe ist kürzlich zusammengestürzt. Sie hätte längst abgestützt werden müssen. Ein Bus aus der Schweiz war gerade darunter. Neun Tote.
    Klar gibt es hier Supermärkte. Aber Nahrungsmittel sind teuer. Obst oder Joghurt können wir uns nur selten leisten. Fisch? Nein. Das Gesundheitsministerium rät ab, Fisch oder Muscheln zu essen. Denn es heißt, die Atomindustrie soll anfangs ihren Atommüll ins Meer geworfen haben. In stabilen Fässern. Inzwischen sind aber viele Fässer kaputt und der Müll ist ins Meer gelangt. Viele Fische sind schwer verstrahlt. Aber welche Fische und wo? Das weiß man nicht. Inzwischen ist die Entsorgung des Atommülls im Meer streng verboten worden. Trotzdem bleibt es riskant, Fisch zu essen.
    Und Fleisch habe ich schon seit Jahren nur noch zu Weihnachten gegessen.
    In Deutschland gibt es seit der Reaktorkatastrophe so gut wie keine Landwirtschaft mehr. Alles verstrahlt. Man hätte fast überall die ganze obere Erdschicht auswechseln müssen, wenn man wieder deutsche Kartoffeln, deutschen Roggen und Weizen, deutsches Gemüse ohne Gefahr hätte anbauen und essen wollen! Das war natürlich nicht möglich. So muss seitdem fast alle Nahrung, die wir brauchen, importiert werden.
    Oder schaut euch unser Schulgebäude an: Alles ist alt, vieles kaputt. Rohre sind durchgerostet, Schrauben sind verschwunden, Ersatzteile bekommt man nicht. Fensterscheiben, die zu Bruch gehen, können wir nicht ersetzen. Es regnet durchs Dach. Und die Hälfte der WCs funktioniert nicht mehr. Warmes und kaltes Wasser? Das war einmal. Fast alle Schulen und Kindergärten haben nur noch kaltes Wasser.
    Wer es sich leisten kann, kauft
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