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Höhenangst

Höhenangst

Titel: Höhenangst
Autoren: Lindsay Gordon
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Höhenangst
Heather Towne
    Ich stand am Fuße eines dieser riesigen Wachttürme, von denen aus die Park Ranger das unendliche Waldgebiet observieren, um rechtzeitig Brandherde zu entdecken. Ich blickte an dem Koloss empor, bis ganz nach oben. Die Stahlleiter zwischen den grünen Stahlbeinen schien gar nicht mehr aufzuhören. Manche Park Ranger betrachten sie vermutlich als Himmelsleiter, für mich hingegen war sie die Hölle.
    Gestern war mein einundzwanzigster Geburtstag. Ein guter Grund, um mich von einigen meiner vielen, vielen kindlichen Phobien zu trennen, insbesondere von meiner Höhenangst.
    Jetzt war ich hier mitten im Wald allein und schaute mich ein wenig ängstlich um. Denn meine beste Freundin Carrie, die unseren Wandertrip organisiert hatte – als Geburtstagsgeschenk und um mir zu helfen, meine Angst vor Staub, Schmutz und Ungeziefer zu überwinden –, trieb sich da draußen irgendwo herum. Ihre freundliche, süffisante Aufmunterung klang mir noch in den Ohren. Nun war ich arme Kleine mutterseelenallein auf dieser Lichtung. Allein mit meinen Nerven und diesem gigantischen Eiffelturm der Parkaufsicht.
    Ich schluckte heftig, tauchte unter die Konstruktion und berührte die Stahlleiter. Ein Schauder überlief mich, dem ein trockener Schluckauf folgte. Trotz der Hitze des Hochsommers fühlte sich das Metall kalt an, wie die Kälte eines Grabes.
    Die Finger meiner linken Hand umschlossen die fünfte Leitersprosse. Dann umfasste auch meine rechte Hand das runde Metall. Ich starrte auf meine Hände und wagte nicht, nach oben zu schauen. Ich wollte mich auf die Aufgabe konzentrieren und sie Schritt für Schritt bewältigen. Mein Plan war, so weit wie möglich hinaufzusteigen, bevor mein Herz aufhörte zu schlagen.
    Eine warme, angenehme Brise umhüllte mich und wehte durch mein blondes Haar, aber mir war immer noch eiskalt. Sonnenstrahlen trafen meine nackten Arme und Beine. Sie drückten mich nieder, wärmten mich aber nicht. Immer nur einen Schritt, beruhigte ich mich und setzte meine Füße in Bewegung.
    Ich setzte einen Wanderschuh auf die erste Sprosse, dann den zweiten Schuh, und hatte mit beiden Füßen die Bodenhaftung verloren. Ich hing an der Leiter wie der bucklige Wasserspeier in der Dachrinne. In meinen Handflächen bildete sich Angstschweiß. Ich atmete tief die Pinienluft ein, hob den linken Arm und umfasste mit der linken Hand die sechste Sprosse, meinen rechten Fuß setzte ich auf die zweite Sprosse.
    Um mich herum schwirrten Insekten, die ich aber kaum wahrnahm, weil das Blut so laut in meinen Ohren rauschte. Ich starrte geradeaus, erdrosselte mit meinen Händen die Leitersprossen, während Adrenalin durch meinen Körper schoss. Ich kletterte und wusste nun, wie sich Sir Edmund Hillary gefühlt haben musste.
    Ich schluckte erneut, hatte aber keine Spucke mehr. Nicht in dieser Höhe. Ich hatte die Anzahl der bereits erklommenen Stufen vergessen und schlich wie eine lauernde Katze die Leiter aufwärts. Mein Verstand war außer Betrieb gesetzt. Ich bewegte mich mit der Entschlossenheit und der Vehemenz einer arthritischen Schildkröte. Eine Hand, ein Fuß, andere Hand, anderer Fuß, eine Sprosse nach der anderen.
    Dann sah ich nach unten und erstarrte. Ich umklammerte die Sprossen wie Kristie Alley das letzte Stück Käsekuchen. Unter mir, gefühlte hundert Fuß entfernt, breitete sich im freien Fall die kanadische Landschaft aus. Mein Herz raste, Tränen schossen mir in die Augen, und meine Glieder schienen ihr eigenes Leben zu führen, so unkontrolliert zitterten sie.
    Ich presste mich gegen das dünne, kalte Metall, das viel zu viele offene Zwischenräume hatte. Ich merkte, wie ich hysterisch wurde, und versuchte, den Mund zu öffnen, um nach Carrie zu schreien. Aber mein Kiefer knackte nur, und vor lauter Angst brachte ich keinen Laut hervor. Meine Fingerknöchel krampften sich um das Metall und waren vor Anstrengung weiß geworden. Meine Knie schlabberten wie ein weicher Pudding.
    Yogi und klein Boo Boo würden mich hier finden. Als klapperndes Skelett an der Leiter baumelnd, zwanzig Leitersprossen über der Erde. Park Ranger Smith würde mich mit einer Lötlampe oder einer Knochensäge von diesem verdammten Turm brennen oder sägen und mich mit einem Stahlseil zur Erde lassen.
    »Geht’s rauf oder runter?«, fragte unten jemand.
    Ich erschrak und neigte den Kopf langsam und schmerzvoll in die Tiefe. Meine Nackenknochen knackten wie Äste.
    Unten stand ein Mann. Ein großer Mann, der zu
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