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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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neben Willis seniors Sessel niederließ.
    Ich setzte mich auf das Sofa, umrahmt von den Pyms, und schenkte Tee ein, wobei ich mich fragte, wie lange es wohl dauern würden, bevor die beiden Schwestern auf den Punkt kamen. Zu meiner Überraschung taten sie es sofort.
    »Kaum war der Hubschrauber gelandet, wussten wir, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste«, sagte Ruth. »Was für ein Jammer. Hätte der arme Gentleman …«
    »… doch Zuflucht in unserem Haus gesucht, wie wir es ihm angeboten haben.« Betrübt schüttelte Louise den Kopf. »Aber er wollte unbedingt weiter.«
    »Sie haben gestern Abend mit dem Landstreicher gesprochen?«, fragte ich beide Schwestern.
    »Wir hörten ihn husten, draußen auf dem Reitweg«, antwortete Ruth. »Ein schreckliches, heiseres Husten. Wir sprachen ihn an, ich bot ihm eine warme Suppe an …«
    »… aber er wollte nicht innehalten«, fuhr Louise fort und fügte mit großen runden Augen hinzu: »Um ehrlich zu sein, wir fanden es recht unheimlich. Er erinnerte uns so sehr an den …«
    »… armen Richard Anscombe, der vor langer Zeit verstarb«, sagte Ruth. »Er wurde im Krieg verletzt, 1917, in den Schützengräben. Dabei verlor er einen Arm, und sein Gesicht war so entstellt, dass er es kaum noch wagte, sich anderen Menschen zu zeigen.«

    »Aus diesem Grund benutzte er stets den Reitweg, damit ihn niemand sah«, ergänzte Ruth.
    Nell nickte. Die Harris’ wohnten nun seit acht Jahren in Anscombe Manor. Als sie einzogen, war das Haus wenig mehr als eine Ruine gewesen, das Grundstück völlig verwildert. Dreißig Jahre zuvor war die Familie Anscombe, die einst zum Landadel von Finch gehörte, von der Bildfläche verschwunden. Nur noch ein paar Bildnisse und verschiedene Marmortafeln in der Saint George’s Church erinnerten an sie.
    »Wir bedrängten ihn, bei diesem Sturm nicht im Freien zu bleiben«, sagte Ruth. »Doch er behauptete, er wäre bald am Ziel.«
    »Welches war?«, fragte Bill.
    »Dimity Westwoods Cottage«, antwortete Louise.
    Natürlich, schoss es mir durch den Kopf. Wen sonst hätte der Mann hier besuchen wollen, wenn nicht Dimity Westwood. Die Frau, von der ich das Cottage geerbt hatte, hatte zu ihren Lebzeiten einen ausgedehnten Bekanntenkreis gehabt, darunter auch Menschen vom unteren Ende der sozialen Leiter.
    Willis senior verfrachtete Will von seiner Schulter auf seinen Schoß und sprach aus, was auch ich gerade überlegt hatte.

    »Offenbar war dem Gentleman nicht bekannt, dass Miss Westwood verstorben ist.«
    Die Schwestern nickten im Verein.
    »Wir haben ja versucht, ihn darauf hinzuweisen«, sagte Ruth. »Aber er konnte uns nicht hö ren …«
    »… der Wind heulte zu laut«, sagte Louise.
    »Dazu sein Husten.«
    »Hat er noch irgendetwas über Dimity gesagt?«, fragte Bill.
    »Nichts«, erwiderte Ruth. »Er winkte uns nur noch einmal zu …«
    »… und ging seiner Wege«, sagte Louise.
    »Wir haben uns seitdem schreckliche Sorgen um ihn gemacht. Wie geht es dem armen Gentleman?«
    Bill sah zu mir herüber und deutete mit dem Kinn in den Flur. Während er die Ereignisse des Morgens detailliert beschrieb, entschuldigte ich mich und ging in das Arbeitszimmer. Es war offensichtlich, dass mein Mann mich zu einem Gespräch mit Tante Dimity aufgefordert hatte.

3
    STRENG GENOMMEN HANDELTE es sich  bei Dimity Westwood nicht um meine Tante.
    Technisch gesehen lebte sie auch nicht mehr. Ersteres zu erklären, fällt mir leichter als Letzteres.
    Dimity Westwood war die beste Freundin meiner verstorbenen Mutter gewesen. Sie hatten sich während des Zweiten Weltkriegs in London kennengelernt und noch lange nach Kriegsende regelmäßig miteinander kommuniziert. Als Kind hörte ich sehr oft von »Tante« Dimity, wobei sie mir immer vorkam wie die Heldin aus einer meiner Gutenachtgeschichten. Die wahre Dimity Westwood offenbarte sich mir eigentlich erst nach ihrem Tod, denn sie vermachte mir ein beträchtliches Vermögen, ein entzückendes Cottage in den Cotswolds und ein in blaues Leder gebundenes Tagebuch mit leeren Seiten. Das Buch verwahrte ich in einem Regal im Arbeitszimmer.
    Durch diesen blauen Band lernte ich meine Wohltäterin erst richtig kennen. Dimity Westwood gehört nicht zu den Menschen, die sich von einer Kleinigkeit wie dem Sterben von ihren liebgewonnenen Gewohnheiten abhalten lassen.

    Sie setzte die Korrespondenz, die sie mit meiner Mutter geführt hatte, einfach mit mir fort, auch wenn ihre sterblichen Überreste längst zu Staub
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