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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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    MEIN VATER STARB, als ich drei Monate alt war. Ich erinnere mich nicht an sein Lachen oder daran, wie er mich im Arm hielt. Meine Erinnerungen stammen alle aus zweiter Hand, aus den Erinnerungen meiner Mutter und aus abgegriffenen Fotoalben.
    »Dein Vater war ein Soldat«, erzählte mir meine Mutter, und tatsächlich, da steht er, in körnigem SchwarzWeiß, mit seinem GI-Grinsen und in einer zerknitterten Uniform, inmitten der Ruinen von Berlin. Kinder in zerlumpter Kleidung scharen sich um ihn und halten die Geschenke in die Höhe, die er aus einem abgewetzten Seesack geholt hat – Schokolade und Kaugummi, Strümpfe und Wollmützen und was sonst er noch aus den Vorratskammern seiner Einheit herausgemogelt hatte. Nie hat ein Weihnachtsmann glücklicher ausgesehen als mein Dad an jenem Tag, umgeben von den Kindern in den Ruinen Berlins.
    »Weihnachten war das Fest, das dein Vater am meisten liebte«, sagte meine Mutter, und gut die Hälfte aller Fotos in den Alben bestätigt das. Da ist er wieder, Jahre später, diesmal spielt er den Weihnachtsmann in unserer Kirche auf der West Side von Chicago. Auf einem Bild backt er Angel Cookies – Vanilleplätzchen – für Freunde und Nachbarn, auf einem anderen befestigt er die Spitze am Christbaum. Als mein Vater noch lebte, begann das Weihnachtsfest bereits am 14. Dezember, dem Geburtstag meiner Mutter. Höhepunkt war eine ausgelassene Party am Heiligabend.
    Der erste Feiertag diente zur Erholung.
    Nach dem Tod meines Vaters schränkte meine Mutter den Umfang der Festlichkeiten ein. Sie hatte weder die Kraft noch das Geld dazu. In meiner Kindheit hing stets ein Hauch von Trauer in der kalten Winterluft. Mir war klar, dass die unspektakulären Feiertage, die ich erlebte, nichts mit den ausgelassenen Festen zu Zeiten meines Vaters zu tun hatten, und insgeheim schwor ich mir, dass ich eines Tages ein Weihnachtsfest ausrichten würde, das denen auf den Fotos alle Ehre machen würde.
    »Und nun ist der Tag endlich gekommen«, murmelte ich. Mit untergeschlagenen Beinen saß ich auf einem Kissen auf der Fensterbank und schaute versonnen zum Himmel hinauf. Ich war eine erwachsene Frau mit zwei eigenen Kindern, und die mageren Zeiten, die ich nach dem Tod meiner Mutter durchgemacht hatte, waren vorbei und vergessen. Dank einer unerwarteten Erbschaft einer Freundin der Familie besaß ich nun ein Cottage in England und ein Vermögen, dass es mir erlaubte, Weihnachten so verschwenderisch zu feiern, wie es mir einfiel. Ich schwor mir, dass das Lieblingsfest meines Vaters in diesem Jahr wieder eine Zeit der Freude werden würde, frei von jedem Gedanken an harte Zeiten.
    Die Sichel des Mondes glitt sachte zwischen niedrigen Wolken dahin, und ein bitterkalter Wind aus Nordosten wirbelte die abgestorbenen Blätter der Buchenhecke auf. Ich betrachtete die schweren, grauen Wolken und fröstelte erwartungsvoll. Noch knapp zwei Wochen bis Weihnachten – mein erstes Weihnachten in England und das erste Weihnachten meiner Söhne. Alles sollte perfekt werden.
    Unglücklicherweise hatte mein Kindermädchen ihren Posten zeitweilig verlassen, um mit ihrem Bräutigam in Italien einen verlängerten Urlaub zu genießen. Die Zwillinge waren neun Monate alt und erschreckend rastlos. Es war keine leichte Aufgabe, sie vor Verletzungen oder Schlimmerem zu bewahren oder sie davon abzuhalten, das Cottage abzureißen. Mein Schwiegervater hatte allerdings keine Sekunde gezögert und sich der Herausforderung gestellt.

    William Willis senior erschien einen Tag nach der Abreise meines Kindermädchens und bestand darauf, ihre Pflichten zu übernehmen. Willis senior war kein Schönwetter-Großvater. Er stammte aus den besten Kreisen Bostons, ein fast aristokratisch wirkender Jurist von hohem Ansehen, ein äußerst anspruchsvoller Mittsechziger, dessen Liebe zu maßgeschneiderter Kleidung nur noch von der für seine Enkelsöhne übertroffen wurde.
    Er schlief auf einer Liege im Kinderzimmer, machte die Jungen morgens fertig, las ihnen abends Gute-Nacht-Geschichten vor und ertrug gelassen schmutzige Windeln, Wolken von Babypuder und Plantschbecken. Einmal erkundigte ich mich nach dem Grund seiner Hingabe. Er habe nie geglaubt, dass er es noch erleben würde, dass sein Sohn Kinder haben würde, antwortete er, und nun habe er vor, jeden Augenblick mit seinen Enkeln zu genießen.
    Solange Willis senior die Geschäfte übernahm, konnte ich mich voll und ganz meinen Feiertagsplänen widmen. Ich inspizierte meine
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