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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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Gesicht?
    »Sein Gesicht?« Ich versuchte, mir die Züge des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, aber ich konnte mich nur an den Bart erinnern, die Haare, und seltsamerweise an seine langen, feingliedrigen Finger. »Er hat schöne Hände«, sagte ich.
    »Mehr weiß ich nicht mehr, Dimity, also wirklich, ich wollte einem Menschen das Leben retten und ihn nicht porträtieren.«
    Dann musst du ins Radcliffe fahren und ihn dir noch mal ansehen .
    »Heute noch?«, fragte ich nervös. Krankenhausbesuche gehörten wirklich nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
    Je früher , desto besser .
    »Aber heute ist der Geburtstag meiner Mutter«, wandte ich ein. »Bill und ich bereiten gerade das Weihnachtsfest für die Familie vor.«
    Dann muss das eben warten . Deine Mutter hätte sicherlich Verständnis dafür . Du musst ins Radcliffe , so schnell wie möglich .
    »Der Mann liegt im Koma.«
    Dann wird es ihm wohl kaum etwas ausmachen , wenn du ihn dir mal genauer ansiehst , oder? Die Handschrift floss etwas sachter dahin.
    Sei jetzt bitte nicht zimperlich . Lori , ich weiß , dass dir in Krankenhäusern schlecht wird , aber du musst gehen . Ich kann den Gedanken nicht ertragen , dass ein alter Freund von mir anonym und einsam auf einer Intensivstation liegt . Wir müssen herausfinden , wer er ist .
    »Ich werde gehen«, versprach ich zähneknirschend.
    Atme einfach immer nur durch den Mund , meine Liebe . Ein Windhauch wehte durch das Arbeitszimmer, das Echo eines Seufzers. Für die Obdachlosen ist es eine schreckliche Jahreszeit . Der Winter meint es nicht gut mit den Armen .
    Ich wartete ab, bis sich Tante Dimitys Handschrift verflüchtigt hatte, dann schloss ich das blaue Buch und blieb noch einen Augenblick sitzen. All meine Pläne für die nächsten Tage hatten sich in Luft aufgelöst. Heute hatte ich den Tag mit meiner Familie verbringen wollen, hatte Kekse backen, Weihnachtsdekoration aufhängen und Weihnachtslieder singen wollen, wie schief auch immer. Dank Dimitys Freund von zweifelhaftem Ruf musste ich den Tag in Oxford verbringen.
    Ich hoffte nur, dass mir auf den nach antiseptischen Mitteln riechenden Fluren des Radcliffe nicht schlecht wurde.
    »Ho, ho, ho«, murmelte ich mürrisch und legte das Buch wieder ins Regal.
    Ich war enttäuscht und schämte mich gleichzeitig dafür. Mit diesen gemischten Gefühlen kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Die Pyms spielten das Guck-Guck-Spiel mit Rob, Bill ließ Will auf seinem Knie reiten. Nell unterhielt sich mit Willis senior über das Krippenspiel. Mein Schwiegervater, der zukünftige Joseph, zeigte sich entzückt darüber, dass Nell die Jungfrau Maria spielen würde.
    »Peggy Kitchen wollte die Rolle haben«, sagte sie, als ich den Raum betrat. »Aber selbst sie musste zugeben, dass sie besser zu mir passt.«
    Ich blieb mitten im Zimmer stehen, und einen Augenblick lang sah ich die übergewichtige, laute Witwe Peggy Kitchen als schwangere Jungfrau vor mir. Kopfschüttelnd ging ich weiter und stellte mich vor den Kamin. »Hört bitte alle gut zu«, verkündete ich. »Bill und ich müssen nach Oxford.«
    »Oxford?«, stöhnte Bill. »Wir hatten doch ausgemacht, die nächsten zwei Wochen zu Hause zu verbringen.«
    »Ich habe es mir kurzfristig anders überlegt«, sagte ich und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Ich mache mir Sorgen um den Landstreicher und möchte mich persönlich davon überzeugen, dass er gut versorgt wird.«
    Das Telefon läutete. Bill nahm den Hörer ab.
    Ruth bestärkte mich in meinem Vorhaben.
    »Man kann nicht vorsichtig genug sein …«
    »… sonst endet es mit einer Lungenentzündung«, fuhr Louise fort. »Sie sollte ihm eine Thermoskanne mit Kraftbrühe bringen …«
    »… oder ein Glas mit Kalbsfußsülze«, schlug Ruth vor.
    »Wie wollt ihr nach Oxford kommen?«, fragte Nell. »Die Straße ist zugeschneit, bis hin nach Finch. Ich würde euch ja meinen Schlitten anbieten, aber …« Ihre Worte gingen in einem Rattern unter, das die Cottagemauern zum Erzittern brachte.
    Entgeistert wandte sich Willis senior um und schaute aus dem Erkerfenster, aber ich wusste bereits, was er sehen würde. Mr Barlows Schneepflug war eine lokale Institution, eine monströse Eigenkonstruktion, die aus einem Müllwagen bestand, an dessen Kühlerhaube er ein leicht schief sitzendes Schaufeleisen geschweißt hatte. Dunkle Rauchwolken quollen aus dem Auspuffrohr, und der Motor brüllte wie ein geistesgestörter Dinosaurier, aber Mr Barlow, Automechaniker im
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