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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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sich auf. »Sie wird entzückt sein. Sie würde es weiß Gott nicht begrü ßen, wenn Mrs Kitchen den Joseph spielen würde.«
    Er nieste zwei Mal, schnäuzte sich und beugte sich wieder zu mir herunter. »Lilian erzählte mir auch von dem unglücklichen Gentleman, den Sie gestern gerettet haben. Gibt es Neuigkeiten über ihn?«
    Vor dem Verlassen des Cottages hatte ich mit Dr. Pritchard telefoniert und konnte dem Vikar auf den neuesten Stand bringen.
    »Er ist noch immer ohne Bewusstsein«, berichtete ich. »Aber sein Zustand ist stabil.«
    »Dem Herrn sei Dank«, sagte der Vikar ernst.
    »Noch immer keine Ahnung, um wen es sich handelt?«
    »Nein«, antwortete ich. »Die Polizei hat Beschreibungen an alle Obdachlosenunterkünfte verteilt, aber bis jetzt hat sich niemand gemeldet, der ihn kennt.«
    Der Vikar stieß einen Seufzer aus. »Armer Bursche. Ich werde ihn bei der Abendandacht in unsere Gebete einschließen. Ach ja, Mr Barlow lässt seine besten Wünsche ausrichten.«

    »Ich werde sie weiterleiten«, versprach ich.
    Ich schloss das Fenster. Die Worte des Vikars hatten mich wieder etwas versöhnt. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass nicht jeder in Finch so kleingeistig dachte wie Peggy Kitchen.

    Oxford präsentierte sich so unangenehm wie immer, laut und voller Verkehr, ein seltsames, zusammengepapptes Konglomerat von wunderschönen Colleges inmitten einer wuchernden, ungepflegten Stadt, zwei unvereinbare Gegensätze.
    Der Schneematsch auf den Straßen hatte die Radfahrer vertrieben, und die Studentenschwärme wurden ausnahmsweise von Horden von Weihnachtseinkäufern ersetzt. Die Fremden schienen nicht einmal die einfachsten Regeln des Straßenverkehrs zu kennen. Ich musste ein gutes halbes Dutzend von ihnen aufschrecken, bevor ich in den sicheren Hafen des Parkhauses unter dem Radcliffe einlief.
    Als ich am Empfang nachfragte, wurde mir mitgeteilt, dass sich Dr. Pritchard noch bei einem Patienten befand. Er hatte jedoch Vorkehrungen getroffen und mir eine rothaarige, rundliche Lernschwester zugeteilt, die mich auf die Intensivstation begleiten sollte.

    Bei Schwester Willoughby schien es sich um eines jener merkwürdigen Geschöpfe zu handeln, die beim Geruch von Desinfektionsmitteln geradezu aufblühen. Während sie fröhlich voranschritt, heftete ich meinen Blick auf den Boden und atmete flach durch den Mund.
    »Aufgrund seiner Lungenentzündung liegt unser Patient isoliert«, teilte mir die junge Schwester enthusiastisch mit. »Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, aber das muss kein schlechtes Zeichen sein. Die Stationsschwester meint, dass sein Körper eine lange Ruhepause braucht.« Sie sah mich mit einem breiten Lächeln an. »Ich kann Ihr Interesse an ihm verstehen, Mrs Shepherd. Er ist …« – sie errötete auf ganz entzückende Weise –, »… er ist etwas ganz Besonderes. Das finden wir alle hier. Selbst die Stationsschwester.«
    Wir blieben vor einem Schwesternzimmer stehen, von dem aus man Einsicht in einen von Glaswänden umgebenen Raum hatte, und ich tauschte meinen Kaschmirmantel und die lederne Schultertasche gegen einen Krankenhauskittel und eine Gesichtsmaske ein.
    »Sehen Sie, was ich meine?«, flüsterte Schwester Willoughby. Sie deutete auf drei ihrer Kolleginnen, die vor dem Raum standen. »Sie kommen in ihren Pausen her, nur um einen Blick auf ihn zu werfen.« Ihr sommersprossiges Gesicht wurde ernst. »Nicht nur, weil er so gut aussieht«, sagte sie mit Nachdruck. »Da gibt es viele, aber er hat so ein gewisses Flair … als sei er hier, um uns daran zu erinnern, wie wichtig unsere Arbeit ist.
    Seit er hier ist, kümmern wir uns noch ein bisschen besser um unsere Patienten.« Sie zupfte am Ärmel meines Anzugs. »Aber Sie wissen, wovon ich spreche. Sie kennen ihn ja bereits.«
    Ich lächelte freundlich, obwohl ich nicht den leisesten Schimmer hatte, wovon Schwester Willoughby da redete. Auf mich hatte der Landstreicher ungefähr so erfreulich gewirkt wie ein Howard Hughes in seinen letzten Tagen.
    »Sind Sie sicher, dass wir von dem gleichen Burschen sprechen?«, fragte ich. »Dieser alte Mann …«
    »Alter Mann?«, rief Schwester Willoughby aus. »Sie können unseren Patienten wohl kaum als alt bezeichnen, Mrs Shepherd. Dr. Pritchard schätzt ihn auf nicht mehr als vierzig Jahre.«
    Verblüfft sah ich sie an. Ich konnte kaum glauben, dass der hagere, grauhaarige Mann, der auf unserem Sofa gelegen hatte, nur ein paar Jahre älter sein sollte als mein Ehemann.
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