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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich
Autoren: Marlis Prinzing
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Einleitung
    Die Tragödie des Menschen besteht nicht darin, dass er im Grunde immer weniger über den Sinn des eigenen Lebens weiß, sondern dass ihn das immer weniger beunruhigt. a
    Václav Havel (1936–2011), tschechischer Schriftsteller und Politiker
    Kirchenfrust und Glaubensdurst – Beginn einer Spurensuche
    Am Nachmittag des zweiten Weihnachtstags 2010 fuhr ich aus dem weihnachtlich-beschaulichen Rom hinauf auf den Aventin, einen der sieben Hügel der Stadt. Wintersonne beschien den ro ten Stein des Klosters Sant’ Anselmo. Der berühmte Blick durch das Schlüsselloch des benachbarten Anwesens der Malteser schafft die direkte Sichtverbindung zum Petersdom. In Sant’Anselmo, dem Hauptsitz der Benediktiner der Welt, erwartete mich Abtprimas Notker Wolf. Ich war gespannt. In den vorausgegangenen Wochen und Monaten hatte ich recherchiert und Material gesammelt über die Mühe der christlichen Kirchen, sich in der Gegenwart zu verorten, aber auch über den anhaltenden Durst der Menschen nach Sinn und Orientierung und über ihre Sehnsucht, an etwas zu glauben. So brach ich auf zur Suche nach Antworten auf Fragen nach dem christlichen Glauben und seinen Gesichtern. Ich wollte hören, beobachten, nachhaken: Was bedeutet Christsein heute? Was heißt Katholisch-Sein? Was Evangelisch-Sein? Inwiefern bietet der Glaube Orientierung in der Gegenwart, wie kann er Rückgrat sein in einer Zeit der Veränderungen, Ungewissheiten, Zerreißproben?
    In den vergangenen zwanzig Jahren verloren die beiden großen christlichen Volkskirchen in Deutschland rund acht Millionen Mitglieder. In Ostdeutschland bewirkten vor allem die Kommunisten, dass rund drei Viertel der Bevölkerung heute keiner Konfession angehören. Insgesamt sind in Deutschland im Jahr 2010 über 60 Prozent der deutschen Bevölkerung Mitglieder der evangelischen oder der katholischen Kirche, die katholische Kirche hat rund ein Zehntelprozent mehr Mitglieder als die evangelische. Je nach Umfrage hält allerdings gerade mal bloß jeder Fünfte seine eigene Institution für glaubwürdig, Katholiken in der Tendenz jeweils noch weniger als Protestanten. Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland büßen seit Jahrhunderten ständig an Bedeutung ein. Heute finden 39 Prozent der deutschen Bevölkerung sogar, der Einfluss der Kirche auf Politik und Gesellschaft sollte noch geringer sein, als dies gegenwärtig der Fall ist, darunter sind mehr Ostdeutsche als Westdeutsche; nur jeder Zehnte wünscht sich die Kirche einflussreicher. 1
    Die Institution Kirche in der Systemkrise: Zwischen Auslaufmodell und Aufbruch
    Ein häufig genannter Kritikpunkt aus innerkirchlicher Perspektive sowie aus der Außensicht ist die Kirchenfinanzierung. 2 Deutschland sei kein Kirchenstaat und eine Staatskirche im Grundgesetz nicht vorgesehen, argumentiert der Schweizer Journalist und Berlin-Korrespondent Ulrich Schmid. Es gebe keinen Grund, Kirchen oder andere religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften nach wie vor als Körperschaften öffentlichen Rechts zu privilegieren und sie aus Steuergeldern zu unterstützen. Der Staat könnte die sozialen Aufgaben, die die Kirche bislang übernimmt, genauso erfüllen. »Die Missbrauchsfälle wären ein guter Anlass, diesem Anachronismus ein Ende zu bereiten.« 3 Auch in manchen Kreisen innerhalb der christlichen Volkskirchen stößt die Kirchensteuer auf Kritik. Sie erwecke leicht den Eindruck, die Kirche sei eine staatliche Einrichtung. Der staatliche Steuereinzug verfestige alte Kirchenstrukturen und eine wuchernde Bürokratie, er entmündige Gemeinden und die Subventionierung lähme innerkirchliche Aktivierungspotenziale. 4 Gegenwärtig erhalten die christlichen Kirchen Mittel vor allem aus drei Töpfen: Steuer, Dotationen, Zuschüsse. Je nach Bundesland beträgt die Kirchensteuer acht oder neun Prozent der Lohnsteuer, im Jahr 2010 waren dies insgesamt 9,2 Milliarden Euro. Der Großteil des Geldes deckt laufende Kosten, nur ein geringer Teil fließt in soziale, karitative und Bildungs-Projekte. Die Kirchensteuer ist abzugsfähig, was einer Steuersubvention an Kirchenmitglieder gleichkommt. Die Bundesländer, Hamburg und Bremen ausgenommen, überweisen ferner sogenannte Dotationen, übrigens auch die neuen Länder, die nach der Wiedervereinigung zügig entsprechende Verträge schlossen – Gesamtsumme 2010: rund 470 Millionen Euro. Historisch begründet werden diese Zahlungen mit der Enteignung von Kirchengütern seit der Reformationszeit.
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