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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich
Autoren: Marlis Prinzing
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noch, bis sie dann, 23-jährig, die Eltern vor vollendete Tatsachen stellte. Für Werner Wolf wurde zum Schlüsselerlebnis, dass er irgendwann im Winter 1954/55 auf dem Dachboden in der Juli-Ausgabe der »Missionsblätter« die Geschichte des Südseemissionars Pierre Chanel las, den Papst Pius XII. gerade heiliggesprochen hatte. Missionar sein – das wollte er auch. Werner Wolf war felsenfest überzeugt: Als Missionar hatte sein Leben einen Sinn. Nach den Osterferien 1955, mit fast 15 Jahren, zog er, dem Rat des Pfarrers folgend, nach Sankt Ottilien zu den Benediktinern um – unter Tränen, aber voller Überzeugung. Bernd Terwitte erlebte mit 17 Jahren bei einer Jugendfreizeit eine Gotteserfahrung, die ihm zeigte, dass für ihn Jesus in seinem Herzen den ersten Platz einnahm, und zog kurz nach dem Abitur in ein Kapuzinerkloster.
    Lea schloss sich einem Missionsorden an, weil sie hinaus in die Welt wollte, am liebsten nach Afrika, und weil sie nicht die Kontemplation suchte, sondern die tätige Nächstenliebe. Ähnlich wie Paulus. Auch er wollte mitten im Leben und mitten in der Welt wirken. Für beide ist der eigene Glaube der Motor zu helfen. Hilfe ist für sie an keine Bedingung gebunden und schon gar nicht an die Religionszugehörigkeit.
    Lea nennt den heiligen Franziskus ihren »Lieblingsheiligen« und beschreibt ihn als »Umstürzler mit Charme. Ein Revolutionär der Sprach-, Macht- und Mittellosen, obwohl reich von Geburt. Er wechselte die Seiten. Er machte es sich freiwillig schwer« 16 . Solwodi, ihre Hilfsorganisation unter anderem für Zwangsprostituierte, sei für sie auch »ein Versuch, diesen Seitenwechsel des Franziskus selbst aktuell nachzuvollziehen«. Auf Franziskus geht im Ursprung auch der Kapuzinerorden zurück, dem sich Paulus angeschlossen hat; die Kapuziner legen die Lehren des Franziskus aber konsequenter aus als die Franziskaner.
    Auch die drei anderen Gesprächspartner wurden von Kind auf ans Christentum herangeführt: Kirsten Fehrs durch ihre Großmutter, Friedrich Schorlemmer durch seinen Vater, einen Pfarrer. Und Arnd Brummer galt als so fromm, dass man in ihm schon als Junge einen katholischen Priester sah. Alle fanden ihre Berufung im Christentum. Brummer betont, er habe nicht den Glauben gewechselt, sondern die Kirche, indem er zum Protestantismus konvertierte. Er kritisiert, dass viele katholische Würdenträger die Moderne verweigern, eine eigene Meinung sei nicht gefragt, stattdessen gebe es Vorschriften, die er nicht einsehe. Das habe er nie ertragen. Weder in der Kirche noch in der Schule noch im Beruf.
    Reformator Martin Luther ist für Brummer, Fehrs und Schorlemmer eine zentrale Persönlichkeit, aber auch eine ambivalente. Friedrich Schorlemmer wurde 1978 als Pfarrer an dessen Wirkungsstätte Wittenberg berufen und kam zunächst mit großer Skepsis. Er fühlte sich aber schon vom Studium an zumindest den Ansichten des jungen Luthers nahe. »Die Zeit zu schweigen ist vergangen und die Zeit zu reden ist gekommen«, eine Kernaussage aus Luthers Schrift von 1520 »An den christlichen Adel deutscher Nation«, stellte Schorlemmer 1988 über die 20 Thesen zur Umgestaltung der DDR. Und am 4. November 1989 rief er einer Million Bürger auf dem Alexanderplatz in Berlin den Luther-Satz zu: »Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet still.« Der Satz steht für Schorlemmers Appelle, bei den Demonstrationen keine Gewalt anzuwenden, und er spiegelt seine Überzeugung von der Machbarkeit des Friedens. Arnd Brummer zitiert dieses Luther-Wort ebenfalls – als Argument für die Streitbarkeit. Kirsten Fehrs stellt einen anderen Luther-Satz in den Mittelpunkt, weil er für sie die Lebensfreude betont: »An Christus glauben ist die Kunst, dass wir aus dem Haus in die Sonne springen!« Das sei ein solch ermutigendes Glaubenswort, weil es gerade auch moderne Menschen animiere, aus Gedankengebäuden zu springen, die man sich baue, obwohl eigentlich klar sei, dass kein Mensch die wirkliche Existenz je erklären kann.
    Politik spielt in der Vita von Brummer, vor allem aber in der von Friedrich Schorlemmer eine besondere Rolle. Den Bürgerrechtler und Friedensaktivist Schorlemmer macht bis heute kaum etwas so wütend wie politische Gleichgültigkeit. Er verlangt von jedem Bürger, gerade in einer Demokratie, sich einzumischen, jeder müsse sich für ein zivilgesellschaftliches Projekt engagieren. Bischöfin Kirsten Fehrs ist in politischer Umgebung, in einem
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