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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter
Autoren: Jakob M. Soedher
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Inselrunde
    Dunkelheit und Stille schwebte über dem See und von den Bergen kam Schwärze. Bleiern schwer ruhten die Fassaden der Inselhäuser und in den engen Gassen war es, als wogte darin ein Wasser aus pechschwarzer Tinte, dessen unergründliches Dunkel sogar das Leuchten der Sterne ermatten ließ. Dort, wo Inselufer und See aufeinandertrafen, im Übergang von Wasser und Land, von Dunkelheit und Schwärze, rückten die Bauten in aufdringlicher Weise an das Ufer heran. In einem der Häuser dort, an der Uferlinie zwischen Hafen und Gerberschanze, regte sich zu dieser frühen Stunde etwas. Die stolze Front mit ihrem im Tageslicht leuchtenden Gelb, geordnet von tiefen Fenstern und kleinen Balkonen, wies nach Südosten. Es war ein Haus, das die Morgen begrüßte, die Tage begehrlich aufnahm, die abendliche Glut heißer Sommerwochen jedoch nicht an sich herankommen ließ. Ab dem späten Nachmittag lag Schatten auf der Westseite und machte die Sommernächte erträglich. Bis zu den letzten Strahlen des Tages spiegelte sich die Sonne im Glas des mit Stilelementen geschmückten Türmchens, das oben auf dem Giebel thronte.
    In einer der oberen Wohnungen wurde ein Stuhl zurechtgerückt, sodass er zum Fenster wies. Der Mann, der dies tat, setzte sich und sah in die Finsternis. Er wartete, wie er jeden Morgen wartete; an wolkenverhangenen Tagen auf einen ersten hellgrauen Schimmer, an klaren Tagen auf den zartgelben Saum, der sich entlang der Bergkette im Südosten zeigte. Aller Erfahrung nach musste dies auch heute wieder geschehen.
    Dr. Otto Zychner war schon angekleidet. Wie immer im bejahrten, graubraunen Anzug, darunter ein helles Hemd, dezente Krawatte; die braunen Lederschuhe durften nicht fehlen. Niemals hätte er sich erlaubt in Hausschuhen herumzulaufen, obwohl es niemanden gab, der daran hätte Anstoß nehmen können.
    Er saß da, um den Tag zu begrüßen, und brauchte kein Licht in den Räumen. Die erforderlichen Handgriffe waren ihm vertraut und konnten im Dunkeln verrichtet werden. Die Dinge, die er in die Hand nehmen musste, lagen am rechten Ort, an bekannter Stelle, in korrekter Reihenfolge. Sobald er angezogen war, setzte er sich auf den Stuhl am Fenster und hoffte auf den Tag. Schales Licht fiel auf den Koffer in der Ecke, in dem das Nötigste gepackt war, falls es einmal schnell gehen musste. Krankenhaus. Niemand wusste, was auf einen wartete, in diesem Alter.
    Der Schlaf war ihm im Lauf der Jahre abhandengekommen und ganz ohne dass er es bemerkt oder beabsichtigt hatte, hatte sich dieser Rhythmus eingeschlichen, der ihm nun als zu seinem Leben zugehörig erschien. Seit er zu Hause bleiben musste und somit nicht mehr vor der Klasse stand und sprach, war er Jahr für Jahr stummer geworden. Ausgerechnet er, der auf dieser Welt war, um zu reden – um zu anderen zu reden, ausgerechnet er. Das Klavier im großen Raum, etwas abseits der Fenster, war nur noch Ablage und Ärgernis der Putzfrau, die den Holzboden nicht so pflegen konnte, wie es ihrer Putzfrauenvorstellung entsprach. Zu Beginn seines erwachsenen Lebens hatte er die Überzeugung gehabt, er müsse zu den Menschen mittels der Musik sprechen. Das war lange her.
    Dr. Otto Zychner saß stumm und wartete. Selbst das Haus gab zu dieser Zeit keine Geräusche von sich. Das beharrliche Klacken der alten Wanduhr verlor sich im Raum.
    Seine Frau hatte ihn verlassen. So nannte er es. Kaum dass er nicht mehr zum Unterrichten gegangen war. Sie war einfach krank geworden und ebenso gestorben – einfach so. Er hatte sich damit herumgequält, ob es an ihm gelegen habe, an seinem Schweigen vielleicht, das er nach Hause in die Wohnung brachte, in der er nicht sprach, weil er das an anderem Ort zu tun hatte. Hätte er vielleicht mehr reden sollen, und wenn ja, was? Das alles war nun schon lange her. Seine Versuche zu anderen zu reden misslangen, weil diese mitreden wollten, und so begann er zu schweigen. All das, was gesagt sein sollte und jene, auf dieses Gesagte zu gebende Antworten sprach er für sich, ganz stumm. Saß dabei ruhig und regungslos auf dem Stuhl oder im Sessel und führte Wortgefechte und Gegenreden, machte Einwürfe und Anmerkungen – aufgebracht, mutig, zornig, fordernd, eloquent. Niemand hätte ahnen können, was in ihm stattfand, wenn er so am Fenster saß und über den See blickte.
    Musik. Er hörte Musik. Pianist hatte er werden wollen. Doch trotz seiner großen Begabung, trotz seines kannibalischen Fleißes und seiner rücksichtslosen Disziplin
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